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Das Dorf in den Lüften

Das Dorf in den Lüften

Titel: Das Dorf in den Lüften
Autoren: Jules Verne
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erste die geheiligte Schwelle. Seine Gefährten folgten ihm und drückten die Thür hinter sich wieder zu.
    Die Wohnung bestand aus zwei nebeneinander liegenden Zimmern, das waren alle Räumlichkeiten, über die Mselo-Tala-Tala verfügte.
    In dem vollkommen dunkeln Vorderzimmer befand sich keine lebende Seele.
    Khamis drückte ein Ohr an die nach dem zweiten Raume führende Thür, die diesen nur mangelhaft abschloß und da und dort einen Lichtstrahl hindurchdringen ließ.
    Der Doctor Johausen befand sich in halb liegender Stellung in dem Hinterzimmer auf einem Sopha. Dieses Möbelstück und einige andere, die sich darin befanden, entstammten offenbar der Ausstattung der Käfighütte und waren jedenfalls mit deren Eigenthümer nach Ngala gebracht worden.
    »Nun hinein!« sagte Max Huber.
    Bei dem dadurch entstehenden Geräusch wendete der Doctor Johausen den Kopf nach der Thüre zu und richtete sich ein wenig auf. Vielleicht war er erst aus tiefem Schlafe aufgewacht. Jedenfalls schien das Auftauchen der Fremden auf ihn aber gar keinen Eindruck zu machen.
    »Herr Doctor Johausen, begann John Cort in deutscher Sprache, meine Freunde und ich wollten sich erlauben, Eurer Majestät ihre Ehrerbietung zu bezeigen!«
    Der Doctor gab keine Antwort. Sollte er die Anrede nicht verstanden haben? Hatte er nach dreijährigem Verweilen unter den Wagddis vielleicht seine Muttersprache verlernt?
    »Verstehen Sie mich? fuhr John Cort fort. Wir sind Fremde, die mit Gewalt nach dem Dorfe Ngala geschleppt worden waren.«
    Keine Antwort.
    Der wagddiische Herrscher schien die Fremden anzustarren, ohne sie zu sehen, sie anzuhören, ohne sie zu verstehen. Er machte keine Bewegung, keine Geste, so als wäre er völlig stumpfsinnig.
    Max Huber trat an ihn heran, ergriff ihn, wenig respectvoll gegenüber einem centralafrikanischen Herrscher, an den Schultern und schüttelte ihn tüchtig ab.
    Seine Majestät schnitt eine Grimasse, wie sie der geübteste Mandrillaffe von Ubanghi nicht besser hätte fertig bringen können.
    Max Huber schüttelte ihn noch einmal.
    Seine Majestät steckte ihm die Zunge heraus.
    »Ist er denn verrückt? fragte John Cort.
    – So verrückt, wie nur einer sein kann,« erklärte Max Huber.
    Ja… der Doctor Johausen war vollkommen geistesabwesend. Schon bei seiner Abreise aus Kamerun ziemlich überspannt, hatte er nach seiner Ankunft in Ngala den Verstand vollends eingebüßt. Wer weiß auch, ob es nicht gerade diese geistige Entartung war, der er seine Erhebung zum Könige der Wagddis verdankte. Bei den Indianern des Fernen Westens, wie bei den Wilden Oceaniens, steht ja die Tollheit in höherem Werthe als die Weisheit, und bei diesen Eingebornen gilt der Narr für ein geheiligtes Wesen, für einen Träger göttlicher Allmacht.
     

    Zwei Schüsse krachten. (S. 229.)
     
    Der arme Doctor Johausen hatte thatsächlich jede Spur von Verstand verloren. Das war’s, warum er sich um die Anwesenheit der vier Fremden im Dorfe nicht kümmerte, warum er in zweien von ihnen nicht Individuen seiner eigenen, von der wagddiischen doch so abweichenden Rasse erkannt hatte.
    »Jetzt bleibt uns nur eins übrig, sagte Khamis. Auf eine Entschließung dieses Uebergeschnappten, uns die Freiheit wiederzugeben, können wir nicht rechnen…
    – Nein… gewiß nicht! bestätigte John Cort.
    – Und das halbthierische Volk hier wird uns nie hinwegziehen lassen, setzte Max Huber hinzu. Da sich nun einmal die Gelegenheit zur Flucht bietet, so wollen wir entfliehen…
    – Und zwar augenblicklich, mahnte Khamis. Machen wir uns die Nacht zu nutze…
    – Und den Zustand, in dem sich diese ganze Welt von Halbaffen befindet, bemerkte Max Huber.
    – Kommt also, sagte Khamis, der sich schon nach dem Vorzimmer hin wendete. Wir wollen versuchen, die Leitertreppe zu finden und dann in den Wald entweichen.
    – Ja, ja, erwiderte Max Huber, doch… der Doctor…
    – Der Doctor? wiederholte Khamis.
    – Wir können ihn doch nicht in seiner wagddiischen Souveränität hier seinem Schicksale überlassen. Es ist unsere Menschenpflicht, auch ihn zu retten.
    – Ja, gewiß lieber Max, stimmte John Cort dem Freunde zu. Der Unglückliche ist nur des Verstandes völlig beraubt… er leistet vielleicht Widerstand. Wenn er sich nun weigert, uns zu folgen?
    – Wir wollen wenigstens den Versuch machen,« antwortete Max Huber, sich dem Doctor nähernd.
    Khamis und John Cort traten auch herzu und ergriffen den Doctor an den Armen.
     

    Khamis und seine Gefährten
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