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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten
Autoren: Robin Wasserman
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Lateinunterricht fort, drei Nachmittage die Woche, amo, amas, amat. Ich weiß nicht mehr, ob es daran lag, dass mir die Aufmerksamkeit gefiel, ob ich zu feige war, um Nein zu sagen, oder ob ich der Gelegenheit nicht widerstehen konnte, meinem Bruder eins auszuwischen. Aber ich machte bestimmt nicht weiter, weil Latein mir gefiel.
    Dann geschah das mit Andrew. Und mein Vater verließ das Haus nicht mehr. Er verließ auch sein Arbeitszimmer so gut wie nicht, wo er theoretisch mit irgendwelchen nebulösen Übersetzungsprojekten beschäftigt war, doch viel häufiger – wir wussten es, sprachen aber nie darüber – löste er dort Kreuzworträtsel, ignorierte Rechnungen oder stützte den Kopf in beide Hände und starrte das Familienfoto auf seinem Schreibtisch an, ohne es wirklich zu sehen. Er kam nur noch selten heraus und ließ uns noch seltener hinein, doch für die Lateinstunden öffnete sich die Tür immer. Für diese eine Stunde am Tag, dreimal die Woche, wurde der Unsichtbare wieder sichtbar – oder vielleicht wurde ich unsichtbar, sodass er mich ertragen konnte. Wir beugten uns über den Text und sprachen über nichts anderes als einen kniffligen Indikativ oder einen Ablativ, der ein Lokativ hätte sein sollen, und hin und wieder, vor allem, als ich so gut wurde, dass ich die Antwort manchmal zuerst wusste, legte er mir seine Hand auf die Schulter.
    Es wäre ein Armutszeugnis gewesen, wenn ich nur deshalb mit Latein weitergemacht hätte, um ein paar Tropfen elterliche Aufmerksamkeit aus meinem lieben, abwesenden Dad herauszuwringen. Daher redete ich mir ein, dass es nichts mit ihm oder uns zu tun hatte und auch nichts mit Andy, der alle Unterrichtsstunden aus dem Foto heraus beobachtete, mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht, das zu sagen schien, dass er genau wusste, was ich da machte, auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Ich redete mir ein, dass es die Sprache war, die mich faszinierte, das befriedigende Gefühl, Wörter wie mathematische Konstrukte aneinanderzureihen, hier eines hinzuzufügen, dort eines zu streichen, bis sich plötzlich eine Lösung ergab. Selbsttäuschung oder nicht, ich machte weiter. Latein wurde zu meiner Sprache, bis zu dem September, in dem ich fünfzehn wurde, jenem September, in dem ich eines Morgens aufwachte und feststellte, dass ich genauso alt war wie mein Bruder. Da wurde Latein zu meiner Rettung.
    6 Chapman ist bis heute so typisch kleinstädtisch, dass es »gute« und »schlechte« Stadtteile gibt, klar voneinander abgegrenzt durch den Walmart in der Mitte. Unser Haus sowie die billige Tankstelle, das Pfandhaus und der sogenannte Park, in dem es mehr gebrauchte Kondome und zerbrochene Meth-Pfeifen als Bäume gab, lagen auf der Südseite. Chapman Prep – eine Stein gewordene Idylle von schlossartigen Ausmaßen, neben dem Campus des Colleges und in unmittelbarer Nachbarschaft von zwei italienischen Eisdielen, drei edlen Schreibwarenhandlungen, vier Geschäften mit Yuppie-Babykleidung und einem Kerzenladen, in dem zweimal täglich Vorführungen im Hinterzimmer stattfanden, gelegen – hatte es sich im Norden gemütlich gemacht. Und ohne meine Bewerbung um das Stipendium für bedürftige Schüler aus dem Ort, die ich aus purer Verzweiflung an die private Highschool geschickt hatte, hätten die beiden Teile auch nie zueinandergefunden. Wie ich später herausfand, hatten meine Testergebnisse der Einstufungstests in Latein den Lehrer für Altphilologie auf sein Exemplar der Aeneis sabbern lassen und der Rektor war der festen Überzeugung gewesen, ich hätte eine Möglichkeit gefunden, den kompletten Inhalt eines Lateinwörterbuchs auf die Sohlen meiner Converse zu kritzeln. Die Zusage kam im April, das Geld für das Stipendium im Juli und im September, als ich zu meinem ersten Tag an der Chapman Prep aufbrach, taten meine Eltern so, als wären sie stolz auf mich.
    Ich war also die Neue in der zehnten Klasse, an einer Schule, in der es seit zwei Jahren keine Neue mehr gegeben hatte. Es lief genau so, wie man es erwarten würde. Zum Glück war ich nicht auf der Suche nach Freunden. Alles, was ich wollte, war ein Ort, an dem man mich nicht kannte und Andy nicht kannte – was vielleicht auch der Grund dafür war, warum ich beim ersten unabwendbaren Small Talk mit einem Mädchen in meiner Chemieklasse sagte, ich sei ein Einzelkind.
    Es rutschte
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