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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten
Autoren: Robin Wasserman
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tot.
    Schon komisch.
    4 Chris ist tot.
    Es ist so unglaublich leicht zu vergessen. Oder zumindest wegzudenken.
    Manchmal jedenfalls.
    5 Bis zu dem September, in dem ich fünfzehn wurde – dem September, in dem ich auf die Chapman Prep wechselte –, konnte man mein Leben in genau zwei Epochen teilen. Vor Totem Bruder, Nach Totem Bruder. VTB war ich die Jüngste unserer vierköpfigen Familie: Vater Lateindozent, Mutter Buchhändlerin in Teilzeit, kurz vor der Scheidung, aber trotzdem noch zusammen, getreu der edlen Tradition der Nach-Baby-Boomer-Bourgeoisie, wegen der Kinder. NTB waren wir immer noch zu viert, nur war eben einer von uns – der Einzige, der für uns noch wichtig war – tot.
    Nicht dass meine Eltern durchgedreht wären. Keine Alkoholprobleme, keine unantastbaren Gedenkschreine, kein unbenutztes Gedeck auf dem Esstisch, kein für Séancen und Hotlines mit einem Medium am anderen Ende der Leitung hinausgeworfenes Geld und ganz bestimmt auch keine Anwandlungen wie eingebildete Geister, Wehklagen um Mitternacht und merkwürdige Geräusche in der Dunkelheit oder dergleichen. Ein paar Monate, nachdem es passiert war, hat meine Mutter mal für eine längere Zeit Tabletten geschluckt. Aber darüber reden wir nicht.
    Nein, die meiste Zeit von NTB waren wir eine völlig normale Familie, die nicht einmal ansatzweise ein leicht abwegiges Verhalten an den Tag legte. Wir räumten sein Zimmer aus und nutzten es nach einer angemessenen Zeit zu einem anderen Zweck. Wir erinnerten uns seiner mit einem angemessen verklärten Blick. Und wir redeten nicht über die Sache mit den Tabletten, genauso wenig wie wir darüber redeten, dass mein Vater seinen Job verlor, weil er sich weigerte, das Haus zu verlassen. Oder dass meine Mutter inzwischen Sekretärin war, die einzige in Massachusetts, die vierundzwanzig Stunden am Tag arbeitete, weil sie es offenbar vorzog, für den fetten Filialleiter einer Bank, der gerne mal seine Mitarbeiterinnen begrapschte, Darlehensanträge zu tippen, als zu Hause zu sein. NTB wurde ich richtig gut darin, an Türen zu lauschen, sonst hätte ich nie etwas von der dritten Hypothek auf das Haus erfahren. Das bestätigte meinen Verdacht: VTB waren sie wegen der Kinder zusammengeblieben, NTB blieben sie wegen Andy zusammen. Genauer gesagt wegen des toten Andy, der in dem Putz der Wände weiterlebte, den er in der sechsten Klasse mit seinem Fahrrad ramponiert hatte, und in dem Parkett, das er in der dritten Klasse mit einem Kerzenziehset verunstaltet hatte, und in allen anderen Kratzern, Wunden und Narben, die er in fünfzehn Jahren achtloser Zerstörung zurückgelassen hatte. Drohender Bankrott und häusliche Zerwürfnisse hin oder her, kein liebender Elternteil würde ihn jemals zurücklassen. Und ich war bei dem Paket eben inklusive.
    So lustig es bei uns zu Hause NTB auch war, in der Schule war es sogar noch besser. Die Mittelstufe der Highschool ist selbst unter besten Bedingungen so eine Art Sechster Höllenkreis, in dem man irgendwo zwischen Flammengräbern und fleischfressenden Harpyien gefangen ist. Eine Situation also, in der einem Benzin im Feuer gerade noch gefehlt hat, insbesondere wenn besagtes Benzin in Form eines älteren Bruders daherkommt, der die ältere Schwester des drittbeliebtesten Mädchens der Schule umbringt. Jenna Lis Trauer war beeindruckend. Sie war eine tragische Gestalt mit vor Tränen gläsernen Augen, eine Jungfrau in Nöten, und sämtliche Mädchen stritten sich darum, wer ihr über die Haare streichen und ihre Hand halten und ihr Oreo-Kekse mit extra viel Füllung bringen durfte. Ich dagegen weinte nicht, ich hatte kein seidiges Haar und mein Bruder war ein Mörder. Ein vollgesoffener Idiot von einem Mörder, dem man keine Vorwürfe mehr machen konnte, weil er sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Für meinen gesellschaftlichen Aufstieg war das nicht gerade förderlich.
    Es gab nur eine Konstante, die den Abgrund zwischen den beiden Epochen überspannte: Latein. Andere Fünfjährige hatten Klavierstunden oder Ballettunterricht, ich dagegen lernte Deklinationen auswendig und sagte mir Eselsbrücken vor. Andy rebellierte, als er neun Jahre alt war, und fälschte die Unterschriften unserer Eltern auf der Erlaubnis, die er brauchte, um nach der Schule Fußball spielen zu können, ich jedoch spielte das brave Mädchen und setzte den
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