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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten
Autoren: Robin Wasserman
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konnten. Sie behielten mich.
    7 Chris erzählte keinem etwas von Andy und ich auch nicht. Als wüsste er, dass ich dann so tun konnte, als wäre es nie passiert, weil es ja eigentlich nicht gelogen war, wenn Chris die Wahrheit kannte.
    Er war nicht mit Adriane zusammen, damals noch nicht. Aber er stand ganz oben auf ihrer Liste und – wie mir schnell klar wurde – die Punkte auf ihrer Liste wurden sehr zielstrebig abgearbeitet. Es stellte sich heraus, dass Adriane Latein für Fortgeschrittene eigentlich nur wegen Chris gewählt hatte. Und im Lateinunterricht ist es dann auch passiert, irgendwo zwischen Deklinationen, Selbstbetrachtungen des Lukrez und schlechten Sketchen nach dem Muster »Alte Römer gehen auf den Markt« wurden Chris und ich Freunde und Chris und Adriane – mit meiner cyranoesken Unterstützung – ein Paar. Ich hatte also einen besten Freund und dank sozialer Addition (Mädchen hat besten Freund plus bester Freund hat neue Freundin gleich Mädchen hat neue beste Freundin, quod erat demonstrandum) hatte ich dann zwei. Chris und ich halfen Adriane durch Latein für Fortgeschrittene, Adriane und ich halfen Chris durch den Förderkurs Chemie, die beiden halfen mir durch die Neu-an-der-Schule-Phase. Zwei Jahre lang waren wir vielleicht nicht glücklicher als der durchschnittliche Highschool-Schüler, der Prüfungen, Freizeitaktivitäten und pädagogisch nutzlose Eltern unter einen Hut bekommen muss, aber wenigstens nicht unglücklich und nicht allein. Dann ging Chris aufs College (allerdings über den Weg des geringsten Widerstands, nämlich auf das benachbarte College gleich die Straße runter), ich begegnete Max, alle zusammen arbeiteten wir an Dem Buch und alles ging den Bach runter.
    8 E. I. Westonia, Ioanni Francisco Westonio, fratri suo germano S.P.D. begann der erste Brief. E. J. Weston grüßt ihren Bruder John Francis Weston. Es waren ungefähr dreißig bröckelnde Pergamentseiten, die mit ausgefranstem Faden zusammengeheftet waren. Die Briefe waren in zufälliger Reihenfolge, manche datiert, manche nicht, aber alle an denselben Empfänger gerichtet. Ich fragte mich, ob er es gewesen war, der ihr die staubige Ausgabe von Petrarcas Canzoniere geschenkt hatte, die mit den Briefen zusammen aufbewahrt worden und ein Jahrhundert lang auf irgendeinem Dachboden in Boston und davor vermutlich auf einem Dachboden in Europa vermodert war. Es war das erste Mal, dass ich etwas so Altes sah, geschweige denn anfassen durfte. Das Papier fühlte sich rau unter meinen Fingern an, aber es war sehr dünn. Mir wurde klar, wie leicht ich es zerreißen konnte. Oder zerdrücken. Oder verbrennen. Ich konnte es auf Tausende Arten zerstören. Das gleiche berauschende Gefühl hatte ich am Grand Canyon gespürt, als wir das erste und letzte Mal einen Familienurlaub in unserer neuen, zahlenmäßig reduzierten Familie versucht hatten. Ich stand am Rand des Abgrunds und wusste, was passieren würde, wenn ich noch einen Schritt nach vorn machte. Nicht, dass ich in Versuchung gekommen wäre, aber die Tatsache, dass ich es hätte tun können, war wie ein Kick. Man hat nicht oft Gelegenheit, etwas richtig Wertvolles zerstören zu können. Als Kind gibt es immer irgendwo einen Turm aus Bauklötzen, den man umwerfen, oder eine Barbie, die man in die Mikrowelle stecken kann. Wenn man erwachsen wird, nehmen sie einem das Spielzeug weg.
    1598, als sie die meisten Briefe geschrieben hatte, war Elizabeth Weston siebzehn Jahre alt und hatte die Hälfte ihres Lebens schon hinter sich. Sie hatte ihren Vater als Baby verloren und in Edward Kelley, Alchemist, Gelehrter, Scharlatan und Tunichtgut, einen neuen gefunden. Er schleppte sie von England nach Prag und ermöglichte ihr ein paar Jahre voller Luxus und Frohsinn am kaiserlichen Hof, bis er den Falschen reinlegte und für den kurzen Rest seines Lebens irgendwo in der Pampa in einem Burgturm gefangen gehalten wurde – und wieder kam Elizabeth mit. Sie vertrödelte den Rest ihrer Kindheit in einer Bruchbude am Fuß des Turms und überbrachte ihrem eingekerkerten Stiefvater Nachrichten, Geschenke und gelegentlich wohl auch kindliche Zuneigung.
    Das Ganze roch geradezu nach Schauerroman und hatte alles, was man für eine shakespearesche Tragödie oder – wenn man noch einen einsamen Stalljungen oder einen vertrauenswürdigen Gefängniswärter dazugedichtet
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