Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten
Autoren: Robin Wasserman
Vom Netzwerk:
mir einfach so raus.
    Meine Mutter wurde das auch mal gefragt, kurze Zeit, nachdem es passiert war. Irgendein Typ in der Schlange vor dem Bankschalter, der nett sein wollte. »Wie viele Kinder haben Sie?« Ein paar Sekunden schnappte meine Mutter nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen – Mund auf, Mund zu, Mund auf – und dann kamen die Tränen. Der Typ hatte so ein schlechtes Gewissen, dass er meiner Mutter einen Job anbot, und der Rest ist bekannt. Genau, die Sekretärinnengeschichte.
    Ich weinte nicht. Ich lächelte das blonde Mädchen an, dessen Namen ich mir nicht merken konnte, und sagte: »Keine Schwestern, keine Brüder, nur ich.« Dann fing sie an, sich über ihre kleinen Zwillingsschwestern zu beschweren, die anscheinend ständig ihre Hausaufgaben durcheinanderbrachten, und das war’s dann mit unserem Gespräch. Die Leute stellen keine Fragen, weil sie sich für die Antworten interessieren. Sie reden nur, um die Stille zu füllen.
    Der Typ, der hinter uns am Labortisch saß, fiel mir gar nicht auf – das heißt, er fiel mir schon auf, weil mir selbst an meinem ersten Tag klar war, dass er die Art von Typ war, die einem einfach auffiel, aber mir fiel nicht auf, dass er uns zuhörte.
    Er fiel mir erst wieder auf, als er mir auf dem Flur hinterherging, während ich versuchte, nach der Chemiestunde den Weg zu dem Klassenzimmer zu finden, in dem der Lateinunterricht stattfinden sollte. Und dann wieder, als er gleichzeitig mit mir den Raum betrat und sich neben mich setzte. Zugegeben, die Statistik sprach eindeutig für mich, da in dem Halbkreis nur fünf Stühle standen, aber die anderen Plätze waren leer, daher hätte er sich ja auch woandershin setzen können. Es bedurfte einer bewussten und nicht ganz nachvollziehbaren Entscheidung, seinen Hintern direkt neben der Neuen zu parken, der Neuen mit den billigen Jeans, der flachen Brust und den Haaren, die man nur als straßenköterbraun bezeichnen konnte. Ich sagte mir, dass ich ein bisschen Glück verdient hatte, und übersah geflissentlich die Tatsache, dass ich erheblich mehr brauchte als nur Glück, um in eine dieser Geschichten katapultiert zu werden, in denen eine graue Maus dem Traumprinzen, der aus unerfindlichen Gründen gerade einmal keine Freundin hat, ins Auge fällt, weil die neue Schule irgendwie ihre wilde, unwiderstehliche Schönheit enthüllt hat, der sie sich zuvor natürlich nie bewusst war.
    Spoiler-Warnung: Chris hatte eine Freundin. Genau genommen eine ganze Reihe davon. Was mir in dem Moment klar wurde, als ich sah, wie er sich zurücklehnte und seinen langen Arm über den leeren Stuhl neben sich drapierte, die Geste eines Jungen, der daran gewöhnt ist, jemanden zu haben, an dem er sich festhalten kann. Also änderte ich das Märchen mal schnell, damit ein trauriger Traumprinz darin Platz hatte, der sich ablenkte, indem er mit Mädchen ausging, die seiner unwürdig waren, sich aber unbewusst für seine wahre Liebe und Retterin aufsparte – nämlich mich –, und lächelte.
    Â»Nora, stimmt’s?«, fragte er.
    Ich nickte. Seine Augen waren tiefbraun, mehrere Nuancen dunkler als sein Gesicht, und ich ging davon aus, dass sie hervorragend für innige Blicke geeignet waren, falls – rein hypothetisch natürlich – irgendwann einmal Bedarf dafür wäre.
    Â»Andrew Kanes Schwester?«
    Ich hörte auf zu lächeln.
    Â»Chris.« Er tippte sich auf die Brust, dann wartete er, als hätte er seinen Text vergessen und würde darauf warten, dass ich seinen Satz für ihn zu Ende sprach. Als ich das nicht tat, fügte er hinzu: »Chris Moore? Mittelstufe der JFK? Ich war in der Sechsten, als du in der Fünften warst.« Er machte wieder eine Pause. »Andy hat meine Fußballmannschaft trainiert.«
    Ich machte ein Geräusch, ein Mmh oder ein Ähm, und fragte mich, wie lange ich eine Antwort hinauszögern konnte. Jetzt erinnerte ich mich wieder an ihn, dunkel allerdings. Er war einer der Jungs, die mit Jenna Li hinter der Cafeteria geknutscht hatten, und plötzlich hielt ich es für möglich, dass sie ihre Lakaien in der ganzen Welt – oder zumindest der Stadt – verteilt hatte, mit dem Befehl, sie zu rächen.
    Â»Er war cool«, meinte Chris. »Tut mir leid. Was passiert ist, meine ich. Das muss echt beschissen gewesen sein.«
    Noch ein Mmh.
    Â»In dem Jahr sind wir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher