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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort
Autoren: Peter Sprong
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überein. Eine solche »Stimmigkeit« und ein solcher Eindruck von »Integrität« will sich bei vielen anderen Reden in Deutschland wohl vor allem deshalb nicht einstellen, weil man hier der emotionalen Beteiligung des Redners, der Investition eigener Gefühle und der Darstellung eigener Überzeugungen mit beträchtlicher Skepsis begegnet. Gefühle gelten vielen – gegenüber Sachargumenten, Zahlen und Fakten – als zweitrangig, sogar als unpassend bis unstatthaft. Dabei gilt auch weiterhin: »pectus est, quod disertos facit, et vis mentis« 111
› Hinweis
 – ein Redner muss Herz und Verstand haben.
    Dass sich diese antike Erkenntnis aber auch in Deutschland hier und da durchsetzt, bewies fast zwei Jahre nach dem Auftritt des US-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama der deutsche Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck. Schon im Jahr 2000 mit dem Cicero-Rednerpreis ausgezeichnet und seitdem mit zahlreichen weiteren Ehrungen als Redner versehen, trat Gauck mit Unterstützung von SPD und Grünen als parteiloser Gegenkandidat von Christian Wulff bei der Bewerbung um das höchste Amt im Staat an. Obgleich er durch seine Tätigkeit als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen einer breiten Öffentlichkeit auch im Westen Deutschlands schon bekannt war, stellte er sich am 22. Juni 2010 mit einer vielbeachteten, fast einstündigen Rede im Deutschen Theater Berlin der Öffentlichkeit noch einmal vor.
    Anders als dem US-Kandidaten ist dabei dem deutschen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten ein Wahlkampf im eigentlichen Sinne untersagt. Das heißt: Er darf und kann sich in seiner Rede nicht explizit mit den Thesen des politischen Gegners auseinandersetzen oder auch nur die eigene politische Position streitbar vertreten. Die wahlkampftypische Profilierung von Positionen und die Verdeutlichung, gar Zuspitzung von bestehenden Unterschieden müssen im Falle des deutschen Präsidentschaftsbewerbers unterbleiben; gefragt ist vielmehr ein Auftritt, bei dem der Bewerber mit seinen Äußerungen auf das Ganze und auf das Verbindende, weniger auf das Trennende abzielt. Die Rolle des Kandidaten muss hier also schon formal anders aufgefasst werden als im Falle Obamas oder anderer Wahlkämpfer.
    Durchaus vergleichbar hingegen ist die Wahl der naheliegenden Strategie der Evidenz. Auch Joachim Gauck wählt das Setting und legt Stil und Inhalt der Rede so an, dass er – obgleich nur Kandidat – doch schon »präsidial« wirken kann. Dabei gelingt es auch ihm, diese »Noch-Nicht«-Figur (Präsident) wirkungsvoll mit den Attributen seiner »Nicht-Mehr-Figur« (Bürgerrechtler) zu verbinden und dabei als das dritte Gemeinsame seine persönlichen Wertüberzeugungen und seine Biografie zu nutzen.
    Ebenso wie Obama steckt er den Rahmen für diese Vorgehensweise gleich am Anfang seiner Rede ab und nimmt selbst eine explizite Beschreibung seiner Rednerrolle vor. So beginnt Gauck mit dem Hinweis, dass er seine Rede anhand eines Manuskriptes halten werde, obwohl dies eigentlich nicht seine Sache sei. Er spreche ansonsten viel lieber »frei – aus dem Herzen«. Heute aber, fügt er hinzu, müsse es wohl »anders sein«.
    Hier signalisiert er durch die äußere Form, dass nun nicht mehr der bisherige Pastor oder Bürgerrechtler zum Publikum sprechen wird, sondern, bereits mit Blick auf die Würde des angestrebten Amtes, der »präsidiale« Kandidat. Gleichzeitig entschuldigt er sich bei seinem Publikum für dieses Vorgehen, um auf diese Weise zu verhindern, dass die präsidiale Positionierung übermäßige Distanz zu seinem Publikum schafft. Denn anders als bei Obama besteht dieses Risiko bei Gauck durchaus: Für seinen Redeauftritt ist kein volksfestartiges Open-Air-Setting vorbereitet, innerhalb dessen er für die mediale Inszenierung wie ein Popstar agieren darf. Stattdessen muss Gauck im dunkelgrauen Jackett mit seriöser Krawatte am Rednerpult in einer klassischen Frontalsituation zu seinen Zuhörern sprechen. Dass er dabei de facto auf einer Theaterbühne auftritt, ändert am offiziösen Charakter der präsidialen Figur nur wenig. Die Herausforderung für Gauck besteht vielmehr darin, trotz dieser distanzierenden Ausgangssituation die notwendige »Brücke« zwischen sich, dem Publikum im Saal und dem natürlich auch in diesem Fall anvisierten Publikum außerhalb des Saals, insbesondere an den PC-Bildschirmen 112
› Hinweis
, zu bauen. Wie gelingt ihm dies – über die Entschuldigung für die Manuskriptform
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