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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort
Autoren: Peter Sprong
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Viel ausführlicher und formbewusster jedoch als Obama setzt der erfahrene protestantische Prediger dabei die dramaturgische Wirkung erzählerischer Methodik ein. Speziell das in Theater- und Drehbuchproduktionen sowie in erfolgreichen Romanen immer wiederkehrende Schema der »Heldenreise« 113
› Hinweis
wird hier zum strukturierenden Prinzip der Rede gemacht: In bedrohlicher und beschwerlicher Situation erhält der Held (hier: die »Helden« der Bürgerrechtsbewegung in der DDR und somit ausdrücklich auch der Redner selbst) einen »Ruf« zur Änderung und Überwindung der Situation im Rahmen einer Mission oder eines Auftrages (hier: die innere Stimme der Sehnsucht nach Freiheit) und begibt sich daraufhin auf eine Abenteuerreise (hier: die »Selbstermächtigung« der Bürger und die lange Geschichte des Widerstands in der DDR), die ihm neben einzelnen Erfolgen immer wieder auch Rückschläge beschert (hier: die mehrmals niedergerungenen Versuche des Aufstands im ehemaligen Ostblock). Schließlich aber führt der Weg des Abenteurers zum ersehnten Erfolg (hier: die Einheit in Freiheit), muss aber durch den/die geläuterten Helden auf dem weiteren Weg immer wieder gesichert und gegen neuerliche Gefahren verteidigt werden (hier: die Angst vor der neuen Freiheit und ihre Verteidigung gegen Anspruchsdenken im Inneren und gegen Bedrohungen von außen). Erst wenn auch dies gelungen ist, kehrt der Held an den Ausgangspunkt seiner Reise zurück bzw. erreicht das eigentliche Ziel (hier: das Amt des Bundespräsidenten, in dem er als Repräsentant, Verteidiger und Impulsgeber für die nachhaltige Konsolidierung der rechtsstaatlich freiheitlichen Staatsordnung angesichts der aktuellen Herausforderungen einer globalisierten Welt wirken kann).
    Auch innerhalb dieser Erzählstruktur nutzt Gauck unablässig das Stilmittel der Personalisierung. So gut wie alle allgemeinen Themen und Kernaussagen werden durch Ich-Erzählungen aus der eigenen Biografie eingerahmt bzw. von diesen repräsentiert:
der inhumane und beängstigende Charakter totalitärer Regime durch die Erzählung von der »Angst in den Augen der Erwachsenen« sowie durch die wiederholte Erkenntnis des Kindes: »Dort draußen ist es zum Fürchten.«
die innere Stimme der Freiheit durch »die mütterliche Liebe« und die Freude am »Freiheitspathos in den Dramen Friedrich Schillers«
die Wendung zu Protest und Revolution durch die Schilderung der veränderten Gesichtsausdrücke der Demonstrationsteilnehmer im Herbst 1989
die Angst vor der neu errungenen Freiheit durch die Erzählung von Ohnmachtsgefühlen
die Angst vor den Folgen der Globalisierung durch die Erinnerung an die persönliche Begegnung mit einer in Deutschland assimilierten Türkin
und schließlich die Überzeugung vom Wert der freiheitlichen Wahl-Demokratie durch die Erzählung vom eigenen Erlebnis erster freier Wahlen im Alter von über fünfzig Jahren
    Insbesondere bei diesem letzten Punkt kommt zu den Inhalten der Rede noch etwas hinzu, was den Eindruck herausragender Glaubwürdigkeit des Redners weiter verstärkt: dessen eigene persönliche Ergriffenheit durch das, was er schildert. Während er von seinem Besuch im Wahllokal berichtet, treten Gauck für einen kurzen Moment Tränen in die Augen. Dabei ist für sein Publikum unzweifelhaft, dass diese Tränen nicht gespielt sind, sondern ehrlicher Rührung im Angesicht der überwältigenden Erinnerung entspringen. Mit diesen Tränen wird klar: Hier würde – im Falle einer Wahl – jemand das höchste Amt im Staate bekleiden, der diesem Staat nicht nur aus Vernunftgründen, sondern auch aus tief empfundener Dankbarkeit und persönlicher Überzeugung dienen und ihn repräsentieren könnte. Die präsidiale Rolle, von Gauck in Form und inhaltlichen Stellungnahmen durchaus aktiv gestaltet, verbindet sich glaubwürdig und wirkungsvoll mit den zentralen Wertüberzeugungen und Charakterzügen der eigenen Persönlichkeit.
    Auf diese Weise entsteht eine nahezu mustergültige Rollen-Authentizität, wie sie in dieser Form hierzulande selten zu finden ist. Und es wird eine Erkenntnis sichtbar, die manchem deutschen Redner möglicherweise einen Ausweg aus seinem Unbehagen in der rhetorischen Kultur weisen könnte: Das Persönliche und das Glaubwürdige sind nicht per se unrhetorisch. Das Rhetorische wiederum ist nicht – nur weil es rhetorisch ist – unglaubwürdig. Die Glaubwürdigkeit entscheidet sich vielmehr überhaupt nicht in der Rhetorik, sondern im Rhetor,
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