Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort
Autoren: Peter Sprong
Vom Netzwerk:
hinaus?
    Die Antwort lautet im Wesentlichen wiederum: durch eine Begegnung mit dem Publikum auf Augenhöhe. Und das heißt, durch eine entsprechende Anpassung des Status beider Seiten. Dies geschieht logischerweise ebenfalls gleich zu Beginn der Rede in einer weiteren »Regiebemerkung« des Redners zu seiner eigenen Positionierung. Gauck sagt:
    »Wenn ich mich Ihnen vorstelle, möchte ich meine Leitgedanken, meine politischen Schwerpunkte und Ziele nicht in Thesen fassen. Vielmehr möchte ich von Erfahrungen sprechen, die mich geprägt haben und den aus mir gemacht haben, der heute vor Ihnen steht. Es sind Erfahrungen, die die Leidenschaft für Freiheit, Demokratie und Recht in meinem Leben verankert haben.« 
    Erstens sagt hier auch Gauck, was er nicht sagen will. Und nicht zufällig ist dies genau das, was das Publikum auch nicht hören will, nämlich einen Vortrag politischer Thesen. Ein weiteres Mal bewährt sich hier der rhetorische Dreh Marc Antons.
    Zweitens sagt er, worüber er stattdessen reden will, nämlich über »persönliche Erfahrungen« – über etwas also, über das auch jeder andere reden kann und das jeden anderen betrifft. Beides ist bei politischen Thesen und Standpunkten nicht unbedingt der Fall. In dieser Ankündigung vollzieht sich die Veränderung im Status: Die präsidiale Figur begibt sich auf Augenhöhe mit den Angesprochenen, indem sie in Aussicht stellt, »von Mensch zu Mensch« sprechen zu wollen und von persönlichen Erfahrungen zu berichten.
    Drittens schließlich geht Gauck bei der Definition seines Status als Redner noch einen wichtigen Schritt weiter, wenn er im Blick auf die Erfahrungen die kurze Bemerkung hinzufügt: »die […] den aus mir gemacht haben, der heute vor Ihnen steht.« Der zweite Teil dieser Aussage zielt darauf ab, ganz bestimmte innere Bilder bei den Zuhörern zu evozieren: »Ich stehe hier vor Ihnen« – das sagt ein Mensch, der gekommen ist, um Rechenschaft abzulegen, rechtschaffen die Wahrheit zu sagen und Auskunft zu erteilen. Man »steht vor« Gericht, tritt – nackt und unverstellt – auch vor den obersten Richter.
    Das bedeutet für den Status des Vortragenden: nicht nur Augenhöhe, sondern sogar ein Schritt in Richtung Unterwerfung. Gauck gehört zu jenen Rednern, deren Idee von der eigenen inneren Größe stabil genug ist, um sich nach außen kleiner zu machen als sein Publikum. Gauck erklärt, dem Publikum – und damit der Öffentlichkeit überhaupt – Rechenschaft geben zu wollen. Hinzu kommt: Wenn ein Mensch, der im Hauptberuf evangelischer Pastor ist, die Wendung gebraucht: »Ich stehe hier vor Ihnen …«, dann ist dies auch eine Anspielung auf das angebliche Wort Martin Luthers bei seiner Verteidigung vor dem Reichstag in Worms: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Gauck präsentiert sich als Lutheraner: Die Ankündigung, sich mit seinen persönlichen Erfahrungen vor das Publikum zu stellen, heißt hier automatisch: das individuell und charakterlich nicht Verhandelbare der eigenen Person sichtbar werden zu lassen und mit der eigenen Gewissenstimme sprechen zu wollen. Auf dieser Ankündigung beruht die Anfangserwartung einer persönlichen, mitmenschlichen Rede von besonderer Glaubwürdigkeit.
    Wie gelingt es Gauck nun, diese Erwartung in den folgenden fünfzig Minuten auch tatsächlich einzulösen? Die Antwort lautet hier, ebenso wie bei Obama: durch die Verknüpfung von persönlicher und allgemeiner Entwicklung. Denn die biografischen Erfahrungen, von denen Gauck berichten will, sind, gemäß dem oben zitierten Passus, ihrer weiteren und letzten Bestimmung nach »Erfahrungen, die die Leidenschaft für Freiheit, Demokratie und Recht in meinem Leben verankert haben«. Hier verknüpft Gauck die Ansprüche an das Präsidentenamt, für das er kandidiert, mit den wesentlichen Erfahrungsinhalten seines Lebens. Und er fügt dieser zweifachen Bestimmung des Inhalts, des »Was« seiner Rede, auch einen Hinweis zum Modus, zum »Wie«, hinzu, indem er den Schlüsselbegriff »Leidenschaft« einführt. So wie die »Sehnsucht« in der Rede Obamas ist es in der Rede Gaucks die »Leidenschaft«, die als Grundton die Stimmung der gesamten Rede prägt und als emotionale Klammer Persönliches und Überpersönliches miteinander verbindet. Auch hier stimmen Inhalt und Form, Botschaft und Stimmung überein.
    Um in diesem Zusammenhang Glaubwürdigkeit zu erzielen, nutzt auch Gauck im weiteren Verlauf der Rede das Mittel des biografischen Storytellings.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher