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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort
Autoren: Peter Sprong
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bleibender Wirkung ist.
    Solche Augenblicke der Transformation und des Rollenwechsels sind auch für prominente Persönlichkeiten von größter Bedeutung. Sie markieren wichtige persönliche Entwicklungspunkte und sind deshalb auch für die Analyse durch Außenstehende besonders lehrreich. Wie unter einem Brennglas ergibt sich bei diesen Gelegenheiten die Chance, das Justieren und Ausbalancieren von Ich und Rollen-Ich zu studieren. Kaum je kann man genauer verfolgen, ob und inwiefern es einem Menschen gelingt, einer bestimmten Rolle oder Figur durch Einsatz der eigenen Persönlichkeit zu größtmöglicher Glaubwürdigkeit zu verhelfen.
    Zwei gelungene Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit können das illustrieren. Beide Beispiele betreffen eine Kandidatur – und zwar die um das jeweils höchste Amt im Staate. Auch wenn die institutionelle Machtfülle der beiden Ämter kaum vergleichbar ist, zeichnen sich beide Kandidaturen durch jenen Vorgang aus, um den es hier geht. Denn die »Kandidatur« bezeichnet genau den Augenblick der Transformation, in dem sich die betreffende Persönlichkeit aus einem bisherigen Rollen-Ich sozusagen versuchsweise verabschiedet (das »Nicht-Mehr«) und ein neues Rollen-Ich ebenso versuchsweise »anprobiert« (das »Noch-Nicht«). Im Falle der hier gewählten Beispiele sind diese Augenblicke exakt zu datieren: Der US-Senator Barack Obama präsentiert sich am 24. Juli 2008 beim Deutschland-Besuch in Berlin an der Siegessäule als künftiger Präsident der Vereinigten Staaten. Und fast zwei Jahre später, am 22. Juni 2010, stellt sich – ebenfalls in Berlin – der Pastor, Bürgerrechtler und ehemalige Bundesbeauftrage für die Stasi-Akten, Joachim Gauck, der Öffentlichkeit als möglicher neuer Bundespräsident vor.
    Um es vorwegzunehmen: Beide Männer schaffen es auf überzeugende und glaubwürdige Art und Weise, eine Schnittmenge zwischen Persönlichkeit und Rolle (sowie bisheriger Rolle) zu bilden und dies für ihre Zuhörer und Zuschauer erlebbar zu machen. Und beide liefern damit zugleich wertvolle Orientierungsbeispiele für die Gestaltung eines rhetorischen Klassikers: der Kandidatenrede.
    Für Barack Obama ist sein Auftritt in Berlin in zweifacher Hinsicht eine historische Zäsur: Zum einen hatte er noch nie vor einer größeren Menschenmenge gesprochen. Zum anderen hat kein anderer Präsidentschaftskandidat vor ihm seinen Wahlkampf zum Teil im Ausland stattfinden lassen. Die Entscheidung, dies nun erstmals zu tun, gehört zu einer auch ansonsten außergewöhnlichen Wahlkampfstrategie, die insbesondere im Internet viele neue Möglichkeiten der Kommunikation mit den Wählern nutzt und die am Ende Barack Obama als ersten Schwarzen in das höchste Amt des Staates führen wird. Der Live-Auftritt in Berlin aber ist selbst im Rahmen dieses neuen Wahlkampfstils ein Schachzug von besonderer Bedeutung. Er zielt auf die Wählerinnen und Wähler im eigenen Land, das heißt: Die Frage, wie der Berliner Obama-Auftritt auf den Fernsehschirmen der Amerikaner wirkt, dürfte aus Sicht der Wahlkampfstrategen entscheidend gewesen sein für alle Weichenstellungen, die es bei Vorbereitung und Durchführung dieser Inszenierung vorzunehmen galt.
    Die unmittelbare Wirklichkeit des Auftritts, die Wirkung der Rede auf die Live-Zuhörer an Ort und Stelle hingegen ist in diesem Fall nicht mehr Zweck, sondern nur noch Mittel. Die Reaktionen der Berlinerinnen und Berliner sind nicht an sich von Bedeutung, sondern nur insofern sie die letzte Wirkungsabsicht der Rede unterstützen: die präsidiale Darstellung des Kandidaten vor den Augen und Ohren des eigenen Wahlvolkes. Denn nur dazu diente die Veranstaltung in Berlin. Sie war Teil einer Strategie, die den damals 46-jährigen Kandidaten möglichst oft und möglichst eindrücklich bereits als jene Figur zeigen wollte, die er erst noch werden sollte: als Präsident der Vereinigten Staaten, der auch außerhalb des Landes eine gute Figur macht und der seine fehlende außenpolitische Erfahrung schnell würde aufholen können. 99
› Hinweis
»Seht her, so wird es sein, wenn Ihr diesen Mann zum Präsidenten wählt« – alle mit einem Wechsel zu Neuem immer auch verbundenen Ängste sollten auf diese Weise zerstreut werden. »Yes, I can!«
    Im Blick auf das hier im Zentrum stehende Thema der Transformation heißt das: Obamas Aufgabe als Redner bestand darin, schon zu diesem frühen Zeitpunkt eine Figur zu verkörpern, die er noch nicht sein konnte und nicht
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