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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort
Autoren: Peter Sprong
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sein durfte. Es galt, einen Spagat zu vollführen: einerseits als Kandidat, also als eine Figur im Übergang aufzutreten und andererseits – gleichsam innerhalb dieser Rolle – schon das erst noch zu erreichende Ergebnis dieser Kandidatur in der Darstellung vorwegzunehmen und sich selbst als Präsidenten zu inszenieren.
    Die damit gewählte Methode bedient sich der Evidenz. Sie wendet sich insbesondere an Zweifler und signalisiert: »Ihr glaubt nicht, dass ich das kann? Dann seht her: Ich tue es schon.« Dass zu diesem Vorgehen ein gehöriges Maß an Wagemut, ja Chuzpe gehört, liegt auf der Hand. Wer die Evidenz-Strategie wählt, pokert hoch. Geht in der Inszenierung irgendetwas schief, wendet sie sich mit ebenso großer Macht gegen den Darsteller, wie sie im positiven Fall für ihn arbeitet. Denn dann heißt es: »Ihr glaubt nicht, dass ich das kann? Ihr hattet wohl recht!«
    Was bedeutet nun diese Inszenierungschoreografie für den rhetorischen »Helden«, der in ihr die Hauptrolle spielt? Wie gestaltet sich in einem solchen Fall das Zusammenspiel von Persönlichkeit und Rolle bzw. Figur? Zunächst einmal dürfte nach dem Gesagten klar sein: Der Redner steht unter enormem Leistungsdruck. Wer hoch pokert, braucht gute Nerven – und ein ausreichendes Selbstvertrauen. Er muss nicht nur den Inszenierungskünsten seiner Wahlkampfstrategen vertrauen, die sich in der Tat kaum Fehler leisten dürfen. 100
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Er muss vor allem sich selbst vertrauen. Der nach außen zu führende Beweis – »Seht her, ich kann das schon« – muss zunächst und vor allem nach innen, in der Begegnung mit sich selbst, geführt werden: »Yes, I can.« Wer auf der sorgsam vorbereiteten Bühne unterhalb der Berliner Siegessäule und auf den Bildschirmen der Welt eine auch für Zweifler überzeugende »präsidiale Figur« machen will, der darf an der Legitimität seines Anspruches auf dieses Amt keine Zweifel hegen – weder in Bezug auf sein Können noch in Bezug auf sein Wollen und Dürfen. Denn geriete er vor sich selbst in den Verdacht, ein »Aufschneider« oder ein »Hochstapler« zu sein, einer, der für sich unanständigerweise 101
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eine Rolle in Anspruch nimmt, die ihm nicht zusteht, ginge ihm die Grundlage für eine glaubwürdige Darstellung seiner Figur verloren.
    Da ist es nur konsequent, dass Obamas Gegner, der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain, die Wirkung des Berliner Auftritts beim Publikum genau auf diese Weise zu konterkarieren versuchte. Er erklärte: »Ich würde auch gerne eine Rede in Deutschland halten. Aber ich würde das viel lieber als Präsident der Vereinigten Staaten tun als nur als Präsidentschaftskandidat.« 102
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    Unüberhörbar schwingt hier genau jener Vorwurf mit, der am ehesten geeignet gewesen wäre, die intendierte Wirkung der Figur zu stören. Geäußert von einem deutlich älteren »Staatsmann« an die Adresse eines im Vergleich zu ihm fast jugendlichen Mitbewerbers, klingt der Hinweis wie der von einem »Über-Ich«, einer weisen Gewissensinstanz vorgebrachte Einspruch, der den Berlin-Auftritt als die typische Vorgehensweise eines ungestümen Emporkömmlings erscheinen lassen soll. Aus Sicht des Republikaners war das klug und entsprach zu einhundert Prozent dem erwartbaren Rollenverhalten des Antagonisten im Stück »Weiser Staatsmann und junger Revolutionär wetteifern um die Staatsführung«. Wichtig für Obama aber war, dass er sich von einem solchen Manöver nicht beeindrucken und an der moralischen Instanz, an der er sich ausrichtete und die sein Verhalten billigte, nicht rütteln ließ. Er blieb für sich dabei: »Yes, I can« und wichtiger noch: »Yes, I am allowed to …«.
    Dass Obama den Auftritt in Berlin tatsächlich mit dieser inneren Selbstsicherheit absolvierte, belegen einige Details der Inszenierung sowie gewisse Formulierungen in der Rede 103
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. So fällt beispielsweise auf, dass Obama seine eigene Rolle als Redner gleich zu Beginn – unmittelbar nach der Begrüßung seiner Gastgeber – ausdrücklich definiert. Überraschend erklärt er:
    »Heute Abend spreche ich zu Ihnen nicht als ein Präsidentschaftskandidat, sondern als Bürger – als stolzer Bürger der USA und als Mitbürger der Welt.«
    Wohl kaum zufällig erinnert dieser Auftakt an die berühmteste Rede der Weltliteratur: die Grabrede Marc Antons auf den ermordeten Julius Cäsar im gleichnamigen Drama von William Shakespeare. »Begraben will ich
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