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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort
Autoren: Peter Sprong
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Cäsarn, nicht ihn preisen«. 104
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Doch es folgt im Drama das genaue Gegenteil: eine Lobpreisung Cäsars, kein Begräbnis. Es wird vielmehr die eben nicht begrabene Leiche des Staatslenkers sein, die für die dann folgende Rede eine Schlüsselrolle spielt, denn anhand ihrer Wunden demonstriert Marc Anton seine Thesen von der Schuld der Verschwörer. Ähnlich macht es auch Obama: Er behauptet, nicht als Kandidat zu sprechen, um sich in Wirklichkeit natürlich doch als Kandidat seinen Wählern in den USA zu präsentieren. Ganz fraglos wurde die Rede dort als »wichtige Wahlkampfrede« mit dem Schwerpunkt »Außenpolitik« aufmerksam beobachtet. 105
› Hinweis
Formal jedoch kann sich Obama gegenüber den tatsächlich anwesenden Zuhörern nicht als »Kandidat« positionieren. Für die Berlinerinnen und Berliner, die deutschen Staatsbürger, die an diesem Tag in den Tiergarten gekommen sind, ist er ganz einfach kein Kandidat. Sie können ihn nicht wählen. Die zu dieser Zeit reale Figur des »US-Senators« ist für das Berliner Publikum ebenfalls nicht ausschlaggebend. Als Ausweg wählt Obama deshalb die Figur des »US- und Weltbürgers«.
    Was aber – formal betrachtet – zunächst wie eine aus der Not entstandene Tugend aussieht, ist in Wirklichkeit zugleich ein kluger Schachzug, der zwei wichtige Funktionen auf einmal erfüllt: Zum einen stellt Obama auf diese Weise eine größtmögliche Nähe zu seinem Publikum her. Mehr noch: Er nimmt einen Status ein, der sich vom Status des Publikums nicht unterscheidet. Redner und Zuhörer sind gleichermaßen »Bürger«. Damit baut Obama (ebenso übrigens wie Marc Anton) zu Beginn jene Brücke zu seinem Publikum, von der bereits im Kapitel über die Befreiung der Rhetorik vom Mythos der Manipulation die Rede war. 106
› Hinweis
Denn die Begegnung auf gemeinsamer Augenhöhe ist Voraussetzung dafür, dass die später folgenden Aufrufe zu Gemeinsamkeit in inhaltlichen Fragen eine Chance auf Erfolg haben.
    Siehe auch im Blog zum Buch unter:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog/?p=195
    Erst wer mit seinen Zuhörern im gemeinsamen Boot sitzt, kann mit ihnen einen gemeinsamen Kurs steuern.
    Die zweite Funktion dieser einleitenden Bemerkung geht noch weit darüber hinaus, denn sich selbst als Weltbürger zu positionieren, erinnert eben auch an den berühmtesten US-Redner in Berlin: Präsident John F. Kennedy. Sein bekannter Satz »Ich bin ein Berliner« entwarf 1963 denselben Zusammenhang: Alle freien Menschen, so sagte er damals, seien »Bürger von West-Berlin«. Ohne den legendären Satz wiederholen oder auch nur darauf hinweisen zu müssen, stellt sich Obama damit in die Tradition Kennedys: Als Bürger der (freien) Welt ist er zugleich Bürger Berlins. Vollkommen unaufdringlich – und dadurch umso wirkungsvoller – wird mit der engen Anlehnung an den berühmten Ex-Präsidenten auch die Identifikation mit den Zuhörern erreicht. Hinzu kommt, dass Obama auf diese Weise gleichzeitig die verschiedenen Adressaten erreicht. Zum einen erobert er die Sympathie des Publikums vor Ort. Zum anderen inszeniert er sich für die Kameras der US-TV-Sender präsidial im Sinne der Wahlkampfstrategie. Wichtig im hier untersuchten Zusammenhang aber ist vor allem: Mit dem »Weltbürger« gelingt es ihm, als Redner eine Figur zu formen, die nicht nur nach außen glaubwürdig und überzeugend ist, sondern auch »nach innen«. Das heißt: Er agiert auch vor sich selbst nicht als jemand, der er (noch) nicht ist, was möglicherweise eine Art von Scham in ihm auslösen würde. 107
› Hinweis
Stattdessen findet er eine Figur, die mit seinem äußeren Status ebenso im Einklang steht wie mit den inneren Werten seiner Persönlichkeit. Das wiederum versetzt ihn in die Lage, im weiteren Verlauf der Rede eine konsistente Argumentation stets entlang der Kette »eigene Biografie – Berlin – USA – Welt« zu führen. Die Glaubwürdigkeit seines Redeauftritts insgesamt hängt ganz wesentlich mit dieser Anbindung seiner politischen Forderungen an seine individuellen moralischen Überzeugungen zusammen.
    Konsequent entfaltet Obama – übrigens nicht nur bei dieser Redegelegenheit, sondern in seinem gesamten »Branding« als Kandidat – sein politisches Programm aus seiner persönlichen Lebensgeschichte. Der Selbstpräsentation als »Weltbürger« folgt in der Berliner Rede deshalb eine längere erzählende Passage mit dezidiert persönlicher Note. Obama berichtet von
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