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Das Drachenboot

Das Drachenboot

Titel: Das Drachenboot
Autoren: Kari Köster-Lösche
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1
Eine rätselhafte Verletzung
     
    Der Donnerstagmorgen der letzten Woche im Herbstmond des Jahres 927 verlief in Haithabu wie unzählige andere seiner Art. Die Handwerker arbeiteten in ihren Buden, die Kaufleute besichtigten die Waren, die von den eben eingetroffenen Wagen aus Hollingstedt oder von Schiffen im Hafen entladen wurden, die Fischer kehrten vom Auslegen ihrer Netze in der Schlei nach Hause, und Folke legte in der Bootsbauerei letzte Hand an einen Drachensteven.
    Natürlich war Folke bei seiner Arbeit nicht allein, ja, eigentlich war es gar nicht seine Arbeit: Er half dem Stevenschnitzer, den Drachenkopf einzupassen. Am Morgen war der Mann, der im Auftrag des Schiffbaumeisters Thorbjörn den Drachen mit gefährlich schnaubenden Nüstern und rollenden Augen geschnitzt und bemalt hatte, mit der Figur über der Schulter angekommen und hatte sie vorsichtig neben dem fast fertigen Schiff abgestellt. Seitdem war der Stevenschnitzer dabei, die Aussparung für den Stiel des Kopfes in das Eichenholz des Stevens zu stemmen.
    Auch Thorbjörn war anwesend, schließlich war es ein feierlicher Augenblick, wenn die lange Bauzeit eines Kriegsschiffes zu Ende ging, und er stand, beide Hände in die Seite gestemmt, mit hochgezogenen Augenbrauen hinter den beiden Männern. Thorbjörn, dessen Gesicht nach dem sonnigen Sommer am ständig spiegelnden Wasser dunkel gebrannt war, lächelte zufrieden. Es war ein schönes Schiff, und wie ein Pfeil würde es über die See zwischen dem Land der Finnen im Osten und den Inseln der Iren im Westen fliegen. Aber Thorbjörn wurde in seinen Gedanken unterbrochen, und auch Folke hob den Kopf und blickte auf die Schlei hinaus.
    Über dem Hintergrundgeräusch von fernem Reden und Rufen in der Stadt hörten sie das Knattern eines großen Segels, in das böiger Wind fuhr. Ungewöhnlich lange hatte der Steuermann das Segel stehenlassen: es erst vor der Hafeneinfahrt fallen zu lassen, konnte auch zu spät sein. Thorbjörn und Folke sahen sich an und schüttelten die Köpfe. »Stümper«, knurrte der Stevenschnitzer, ohne sich umzusehen, und sein Holzschlegel schlug dazu im Takt auf den Beitel.
    Aber das mußte nicht sein. Wer auf einem schnellen Kriegsschiff die schmale Schlei entlangsegelte, statt rudern zu lassen, wußte meistens, was er tat. Wenn nicht, würde er nur mit viel Glück hier am allerletzten Ende der Schlei ankommen. Viele Engstellen mit Strömung und Gegenströmung und Richtungsänderungen im Wasserlauf machten das Befahren unter Segeln schwierig. Der Schiffsführer mußte entweder tollkühn sein oder ein dringendes Anliegen in der Stadt haben.
    Folke sprang auf einen Holzstamm, der zum Spalten bereitlag. Aber über die Hafenpalisade konnte er nicht hinwegblicken, obwohl er einer der längsten jungen Männer von Haithabu war. Er zuckte die Schultern und kam wieder herunter. Zu gerne hätte er das Langschiff einlaufen sehen. So aber konnte er nur beobachten, wie sich der Mast langsam in Richtung auf das Hafentor zubewegte, und aus der Ferne die Befehle an die Ruderer hören.
    Thorbjörn, der seinen Brudersohn kannte, schmunzelte und strich sich über den blonden Bart, in dem bereits die ersten grauen Strähnen sichtbar wurden. »Vielleicht ist etwas mit dem Schiff nicht in Ordnung. Du solltest hingehen«, schlug er vor, »und in meinem Namen dem Schiffsführer Hilfe anbieten, sofern er sie annehmen möchte.«
    O nein, wollte Folke widersprechen. Das konnte doch jeder der Mastspitze ansehen, daß das Schiff seetüchtig war, auch einer, der erst zwei Jahre lang den Schiffbau gelernt hat. »Willst du mich auf die Probe stellen?« fragte er statt dessen verdutzt.
    Thorbjörn schüttelte milde den Kopf. Er hatte gelernt, seinen Brudersohn zu verstehen, besser als dieser ihn, und er wußte, daß Folke mit seiner unstillbaren Neugierde nicht die Zeit totschlug. Und während der Stevenschnitzer das Loch auskehlte, gab es sonst ohnehin nichts zu tun. »Ich meine es im Ernst«, bekräftigte er, »geh nur.«
    Wortlos sprang Folke in den Schuppen, in dem sie ihr Werkzeug aufbewahrten, und streifte rasch seine Tunika über. Dann lief er los.
    Bereits vom Uferweg aus konnte Folke erkennen, daß es ein großes Drachenboot war, das Einlaß in den Hafen von Haithabu begehrte. Noch lag es mitten im Hafentor, und sein Schiffsführer stand vorn im Bug und verhandelte mit einem Mann des Wikgrafen um die Erlaubnis zur Einfahrt. Trotz des kriegerischen Aussehens des Schiffes, an dessen Bug ein
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