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Das Babylon-Virus

Das Babylon-Virus

Titel: Das Babylon-Virus
Autoren: Stephan M. Rother
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Teufelchen einen herzhaften Tritt versetzte. Der Professor war eine Koryphäe der Wissenschaft. Amadeo Fanelli kam es nicht zu, die Einschätzung eines solchen Mannes in Zweifel zu ziehen.

    Schon gar nicht, wenn es bei Licht betrachtet eine höchst schmeichelhafte Einschätzung war.
    Und doch war ihm klar, dass er spätestens an dieser Stelle allen Grund hatte, vorsichtig zu werden. Helmbrecht war ein Großmeister der Manipulation, und er kannte Amadeo nur zu gut. Er wusste genau, dass der junge Mann auf der Stelle alles stehen und liegen lassen würde, um ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen.
    Wenn es denn tatsächlich sein letzter Wunsch war! War Helmbrecht tatsächlich krank? Wie ließ sich das nachprüfen, wenn er sich jeder Kontaktaufnahme verweigerte!
    Wir haben keine Zeit mehr.
    »Aber das war ein Traum«, flüsterte Amadeo. Bis in seine Träume konnte selbst ein Ingolf Helmbrecht nicht vordringen.
    »Unmöglich«, murmelte er.
     
    Amadeo stützte den Kopf in die Hände. Er hatte den gesamten Babylon-Text in seine Textverarbeitung getippt und in verschiedenen Versionen abgespeichert. Probehalber hatte er Satzzeichen und Wortzwischenräume entfernt, weil er wusste, dass die allermeisten historischen Codes ausschließlich auf der Basis von Buchstaben funktionierten, von der kabbalistischen Deutung der Bibel über die Geheimkorrespondenz der Maria Stuart bis zur legendären deutschen Enigma -Verschlüsselung im Zweiten Weltkrieg. Eintausendfünfhunderteinundzwanzig Buchstaben waren übrig geblieben.
    Und nun, seit zwei Stunden, saß Amadeo vor seinem Monitor und wartete auf die Erleuchtung. Doch die Erleuchtung wollte nicht kommen.
    Caffè.
    Sehnsüchtig blickte er zur Bürotür. Er wusste, was geschehen
würde, wenn er sie öffnete und in die Werkstatt trat, und er konnte es den angestellten Restauratoren nicht einmal verübeln. Tausend Anliegen, Fragen, Details - er war der capo .
    Doch wie sollte ihm ein Durchbruch in der kryptologischen Wissenschaft gelingen, wenn ihm das grundlegendste Werkzeug einer jeden wissenschaftlichen Tätigkeit fehlte: frisch gebrühter, dampfender caffè ?
    Lautlos trat er an die Tür, legte das Ohr gegen das Holz, lauschte. Nichts zu hören im Moment. Wahrscheinlich waren alle in ihre Arbeit vertieft. Wenn er Glück hatte, sich ganz leise bewegte …
    Vorsichtig legte er die Hand auf die Klinke, drückte sie nieder und spähte durch den entstandenen Spalt.
    Der größte Teil der Officina di Tomasi wurde von einem unsymmetrisch geschnittenen Arbeitsraum eingenommen, in dem die Tische der angestellten Restauratoren Rücken an Rücken standen, gegeneinander abgeschirmt durch niedrige Trennwände.
    Tatsächlich waren momentan sämtliche Köpfe beflissen über ihre Arbeit gebeugt - eine Spur zu beflissen sogar, als dass er ihnen abgenommen hätte, dass das den ganzen Tag so ging. Hatte tatsächlich niemand den capo bemerkt oder wollten sie ihn nicht bemerken? Im Augenblick war es Amadeo gleichgültig.
    Ich lasse sie in Ruhe, dachte er. Und sie lassen mich in Ruhe.
    Damit konnte er leben. Geräuschlos schob er sich durch die Tür, verharrte einen Moment, als sein Blick auf die Arbeitstische fiel, auf die mittelalterlichen Codices aus Pergament oder frühem Papier, die man als schwerkranke Patienten in Roms traditionsreichstes Bücherrestauratorenunternehmen einlieferte. Es gab Augenblicke, in denen er
noch immer nicht fassen konnte, dass er den geheimnisvollen Schätzen der Vergangenheit so nahe sein durfte.
    Deshalb war Amadeo Fanelli aus seinem abgelegenen Heimatdorf am Rande der Abruzzen nach Rom gekommen. Deshalb hatte er Geschichte studiert, Kunstgeschichte, Theologie sogar und vergleichende Kulturwissenschaften. Weil er Geheimnisse liebte. Deshalb hatte er begonnen, der officina zuzuarbeiten, als wissenschaftlicher Berater zunächst und inzwischen als capo , als Geschäftsführer. Weil jede dieser Handschriften einzigartige Geheimnisse barg, ihre eigene, mysteriöse Geschichte hatte. Irgendwann, vor sechs-, sieben-, achthundert Jahren hatten die verkrampften Finger eines Mönchs oder Scriptors jene heute fast verblassten Zeichen auf kostbares Pergament gebannt. Jedes dieser Stücke war durchtränkt von den Geheimnissen der Vergangenheit.
    Das Unangenehme war, dass Amadeo nicht mehr dazu kam, diese Geheimnisse zu ergründen. Der alltägliche Bürokram, den er als capo zu erledigen hatte, Posteingänge, Dienstpläne, Rechnungen, Kostenvoranschläge - dieser Trott fraß ihn auf.
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