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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin
Autoren: Victoria Hanley
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„Oh, Herr, ich ..."
    „Beim nächsten Mal, Hauptmann, bleibt Ihr hier und beschützt meine Familie"
    Der König unterbrach sich. Überrascht schaute er auf Torina, die nur wenige Schritte entfernt in einem fließenden, weißen Trauergewand stand. Wie lange war sie schon da?
    Das Gesicht des Mädchens war beinahe so weiß wie ihr Gewand. Er dachte daran, dass er seine Tochter seit ihrer Begegnung in der Ebene nicht mehr gesehen hatte.
    Diese Totgeburt hat uns alle verändert.
    Unbeholfen streckte er den Arm aus und zögernd legte sie ihre Hand in seine. Wo war das ungestüme Kind geblieben, das sich erst einen Tag zuvor in seine Arme geworfen hatte?
    Ihre kleine Hand umfasste das Geschenk, das er ihr mitgebracht hatte. Sie streckte es ihm entgegen. „Ist das aus
    Bellandra?" Er nickte. „Von wem habt Ihr das, Vater?", fragte sie.
    „Ich habe es irgendwo gesehen und musste an dich denken. Ich habe vergessen, wer es mir gab." „Habt Ihr mein Gesicht darin erkannt?" „Dein Gesicht?" Kareed runzelte verwundert die Stirn.
    „Ihr habt vergessen, wem es gehörte?", fragte sie wieder.
    „So viele Schlachten, ich kann mich nicht an alle Einzelheiten erinnern."
    Doch Kareed erinnerte sich sehr wohl. An jene merkwürdige Frau, älter als Ancilla, gebeugt und runzelig. Während der Plünderung von Bellandra, als sie nach dem Zauberschwert suchten, brach er in ihr Haus ein. Sie sah ihn mit einem alterslosen Blick an, dann blickte sie auf die glitzernde Kugel in ihrem Schoß und lächelte schmerzlich.
    „Ah", seufzte sie und küsste den Kristall. Sie streckte ihn ihm hin. „Für Eure rothaarige Tochter." Dann sackte sie vor seinen Augen zusammen, und als er sie mit seinem Schwert anstieß, rührte sie sich nicht. Kareed beugte sich nieder, raubte die glänzende Kugel aus ihrer toten Hand und ließ sie in seine Tasche gleiten. Er wollte sie Torina mitbringen. Einen Augenblick lang rätselte er, woher sie wusste, dass er eine rothaarige Tochter hatte. Doch er selbst hatte ja auch rote Haare. Mein Sohn! Der Schmerz übermannte ihn. Er sah das winzige, wachsbleiche, vollkommen ausgebildete Kindchen vor sich, das niemals Atem schöpfen sollte. Wenn ich langsamer geritten wäre, hättest du dann leben dürfen? Er war jetzt gewiss, dass Dreea keine Kinder mehr bekommen konnte. Doch ertrug er den Gedanken nicht, sein geliebtes Weib für eine jüngere, fruchtbare Frau zu verlassen. Liebevoll blickte der König auf Torinas glänzendes Haar, das sich über die Kristallkugel ergoss. Der letzte Spross eines uralten, mächtigen Geschlechts.
    Dieser Gedanke erinnerte ihn an das Ende eines anderen Geschlechts.
    „Ich habe dir noch ein Geschenk mitgebracht, Torina", sagte er plötzlich mit finsterer Miene. „Vesputo! Holt den Jungen."
    Schon bald erschien der Hauptmann wieder. Vor ihm her ging der vormalige Prinz von Bellandra. Sein Gesicht war von dunklen Locken umrahmt und war trotz der blauen Flecken und Schwellungen ruhig wie Treibholz. Seine vor Dreck und Staub starrende Kleidung war einst edel gewesen. Seine Beine, fast schon die eines Mannes, wankten. Die Arme waren ihm auf den Rücken gebunden.
    Vesputo stieß den jungen Gefangenen vor sich her, der Junge stolperte und fiel hin. Torina eilte ihm zur Hilfe. Als Torina dem Jungen auf die Beine half, sah Kareed, wie seine Augen kurz aufflackerten, sein Blick glich einem zu Eis erstarrten Sonnenfeuer.
    „Wer ist das?", fragte Torina
    „Ein Königssohn", antwortete Kareed und sah auf den Jungen.
    „Warum ist er gefesselt?"
    „Er ist ein Gefangener. Und kein Königssohn mehr. Ich habe ihn dir mitgebracht, Torina. Er wird einen guten Sklaven abgeben."
    Ja, ein Sklave! Kein Einziger deiner Diener ist ein Sklave. Doch das ist etwas anderes. Das wird den Sieg über Bellandra krönen, dachte er bei sich.
    Torina betrachtete den Jungen, sah sein schweres, lockiges Haar und seine wilden, abweisenden Augen. „Wenn er mein Sklave ist, gehört er mir dann ganz allein?", fragte sie. „Dir ganz allein."
    „Und ich kann mit ihm machen, was ich will?" Der König nickte
    Die Prinzessin erschauderte. „Wie heißt Ihr, Königssohn?", fragte sie.
    „Landen." Die Manieren des Jungen, immer noch die eines Prinzen, passten nicht zu den staubigen Fetzen und dem geschundenen Körper. „Vesputo." „Prinzessin?"
    „Trennt seine Fesseln durch, bitte."
    Der Hauptmann sah fragend auf den König, dieser nickte zustimmend. Ein Messer blitzte auf, nachlässig zerschnitt Vesputo die Fesseln, sodass
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