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Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)

Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)

Titel: Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Autoren: Jessica Khoury
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1
    Man erzählt mir, dass Onkel Paolo mich am Tag meiner Geburt an seinen weißen Laborkittel drückte und flüsterte: »Sie ist perfekt.« Sechzehn Jahre später sagen sie das noch immer. Jeden Tag höre ich das Wort, von den Wissenschaftlern oder Wachleuten, von meiner Mutter oder von Tante Brigid. Perfekt.
    Sie sagen auch andere Dinge. Dass ich die Einzige meiner Art sei, zumindest bis jetzt. Dass ich die Krone der Schöpfung sei, eine Göttin aus Fleisch und Blut. Du bist unsterblich, Pia, und du bist perfekt, sagen sie.
    Doch während ich hinter Onkel Paolo zum Labor trotte, die Schnürsenkel meiner Stiefel im Dreck schleifen und meine Hände einen flatternden Sperling umschließen, fühle ich mich alles andere als perfekt.
    Der Dschungel außerhalb des Geländes ist unruhiger als sonst. Der Wind, der den Duft von Orchideen mitbringt, streicht durch die Kapokbäume und Palmen, als suchte er nach etwas Verlorenem. Die Luft ist so feucht, dass sich auf meiner Haut und auf Onkel Paolos grau meliertem Haar fast wie von Zauberhand Wassertröpfchen bilden. Als wir durch den Garten gehen, streifen schwer herabhängende Passionsblumen und stachlige Helikonien meine Beine und überziehen meine Stiefel mit Tau. Überall ist Wasser, aber das ist im Regenwald ja normal. Nur dass es sich heute kälter anfühlt, weniger erfrischend, aggressiver.
    Heute ist ein Testtag. Die Tests heißen Wickham-Tests und sie finden nur alle paar Monate statt, oft ohne jede Vorwarnung. Als ich heute Morgen in meinem Schlafzimmer mit den gläsernen Wänden aufgewacht bin, dachte ich, mich erwarte das Übliche: für Onkel Antonio Gattungs- und Artenbezeichnungen aufsagen, mit Onkel Jakob unter dem Mikroskop Algenproben vergleichen und danach, vielleicht, ausgiebig im Pool schwimmen. Stattdessen begrüßte mich meine Mutter mit der Mitteilung, dass Onkel Paolo beschlossen habe, heute einen Test abzuhalten. Danach zog sie gut gelaunt wieder ab und ich musste mich in aller Eile fertig machen. Ich hatte nicht einmal Zeit, die Schnürsenkel zuzubinden.
    Und da bin ich nun, keine zehn Minuten später.
    Der Vogel in meinen Händen kämpft unermüdlich. Er kratzt mit seinen winzigen Krallen an meinen Handflächen und hackt mit dem Schnabel nach meinen Fingerspitzen. Er hat keine Chance. Seine Krallen sind scharf genug, um die Haut aufzuritzen – nur eben nicht meine Haut. Wahrscheinlich hat Onkel Paolo deshalb mich gebeten ihn zu tragen und tut es nicht selbst.
    Mag ja sein, dass man meiner Haut keine Verletzungen zufügen kann, aber sie fühlt sich drei Nummern zu klein an und ich muss mich richtig anstrengen, um gleichmäßig zu atmen. Mein Herz flattert hektischer als der Vogel.
    Testtag.
    Beim letzten Test vor vier Monaten war kein lebendiges Tier im Spiel. Einfach war er trotzdem nicht. Ich musste fünf verschiedene Leute beobachten – Jacques, den Koch, Clarence, den Hausmeister, und drei weitere nicht wissenschaftliche Bewohner – und anschließend durchkalkulieren, ob sie mehr zum Wohlergehen von Little Cam beitrugen als für ihr Gehalt und ihre Verpflegung aufgewendet werden musste. Ich hatte entsetzliche Angst, dass das Ergebnis meiner Kosten-Nutzen-Analyse zur Entlassung eines von ihnen führen könnte. So weit kam es zwar nicht, doch Onkel Paolo redete ein ernstes Wort mit Tante Nénine, der Waschfrau, weil sie im Vergleich zu der Zeit, in der sie sich um die Wäsche kümmerte, zu viel schlief. Ich fragte Onkel Paolo nach dem Sinn des Tests und er erklärte mir, dass er zeigen würde, ob mein Urteilsvermögen für rationale, wissenschaftliche Beobachtungen klar genug sei. Rationale Beobachtungen hin oder her, ich bin mir immer noch nicht sicher, ob Tante Nénine mir meine Beurteilung verziehen hat.
    Ich blicke hinunter auf den Sperling und frage mich, was wohl auf ihn zukommt. Einen Augenblick lang lassen meine Aufmerksamkeit – und meine Finger – nach, kaum merklich, aber es reicht, dass der Vogel sich befreien und auffliegen kann. Meine hervorragenden Reflexe reagieren schneller als mein Gehirn. Meine Hand greift in die Luft, schließt sich um den Vogel, und das alles in der Zeitspanne eines Augenzwinkerns.
    »Alles in Ordnung?«, fragt Onkel Paolo, ohne sich umzudrehen.
    »Bestens.« Ich weiß, dass er weiß, was gerade passiert ist. Das war schon immer so. Aber er weiß auch, dass ich nie so ungehorsam wäre und das von ihm gewählte Tier freilassen würde.
    Tut mir leid, möchte ich am liebsten zu dem Vogel sagen.
    Stattdessen
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