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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin
Autoren: Victoria Hanley
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Pferd.
    „Was ist los?", rief Vesputo. Torina sprang mit einem Satz auf ihr Pferd, rammte ihm die Fersen in die Flanken und preschte nach Hause.
    Vor der Kammer der Königin stand eine Gruppe wartender Frauen. Wie ein zischendes Flämmchen barst Torina dazwischen. Fast schaffte sie es unbemerkt durch die Tür, wurde dann aber doch zurückgehalten. Sie schlug und trat um sich, aber die Frauen umringten sie und hielten sie mit ihren sanften, starken Armen umfangen. Sie weinte und rief nach ihrer Mutter, aber sie ließen sie nicht los. Als ihr Heulen in unbändiges Wutgeschrei umschlug, wurde sie auf ihr Zimmer getragen. Eine der Frauen blieb bewegungslos an ihrem Lager und wachte.
    Im Morgengrauen schlüpfte Ancilla, die alte Mutter des Königs, in das Zimmer der Enkelin. Zusammengekauert lag Torina auf ihrer von kunstvollen Schnitzereien gezierten Bettstatt, zugedeckt mit Decken, die von Dreea in geduldiger Handarbeit geschaffen worden waren. Ancilla hatte nur Söhne zur Welt gebracht. Alle bis auf Kareed waren in den Sliviitischen Kriegen gefallen. Ihren Jüngsten hatte sie bekommen, als sie mit einer Empfängnis längst nicht mehr gerechnet hatte. Jetzt war sie die Älteste unter den Bewohnern des Schlosses, so alt, dass ihre zarten Gesichtszüge, die einst Scharen von Königen angezogen hatten, unter den Runzeln fast verschwanden. Doch ihr Schritt war noch immer leicht und geschwind und in ihren Augen loderte noch immer das berühmte Feuer der Krieger von Archeld. Ruhig saß sie neben Torina auf dem Bett, ihr Körper
    hinterließ kaum eine Delle in der Matratze. Ihre Hand, die knotig war wie die frei liegenden Wurzeln eines uralten Baumes, strichen dem Mädchen übers wilde Haar. Torina blinzelte und küsste Ancillas dürre Finger. „Wo ist Mama?"
    „Sie ruht", sprach Ancilla sanft. „Das Baby?"
    „Ein tot geborener Sohn." Die alten Augen wurden feucht.
    Torina schlug die Arme um sich und starrte durch den Raum, als sei sie von einer inneren Vision gefangen. Die alte Königin folgte dem Blick ihrer Enkelin und sah die runde, klare Kristallkugel, die auf einer Konsole gegenüber dem Bett lag.
    „Tot geboren!", schrie das Kind und deutete auf die Kugel, „Großmutter, der Kristall, den mein Vater mir schenkte, zeigte mir gestern, was geschehen ist!" Ancilla erstarrte. Gestern. Die Königin war an diesem Morgen niedergekommen. Wie konnte das Mädchen das wissen? War Torina eine Seherin? Guter Himmel, welch eine große und schreckliche Gabe wäre das! Ancilla beugte sich vor und nahm das bebende Kind in die Arme. Mit ihrer bebenden zarten Stimme stimmte sie die alte Trauerweise an. „Den ich liebe ist von mir gegangen ..."
    Tränen rannen Torina über die Wangen, als sie mit ihrer Kinderstimme stammelnd mitsang. „Niemals mehr wandeln wir über die Fluren,
    niemals mehr lauschen wir dem Morgenlied der Vögel.
    Oh, du warst mein und ich liebte dich so, nun bist du fort, an einem fremden Ort, Ich folge dir, wenn meine Tage sich neigen."
    König Kareed stand an der Mauer des Schlosshofes gelehnt und schaute zur Straße hinüber, die jeder, der aus der Ebene kam, passieren musste. Die Krieger kehrten zurück und der König beobachtete sie schweigend. Die Männer ritten in strenger Rangordnung und salutierten vor ihm. Später, wenn sie ihre Unterkünfte bezogen oder mit ihren Familien wiedervereint waren, würden sie ein Freudenfest feiern. Was für ein großer Sieg. Bellandra, die Unbesiegbare, war erobert. Das Schwert von Bellandra genommen. Das musste gefeiert werden. Doch jetzt, im Angesicht des Königs, dessen weiße Trauerkleidung von seinem jüngsten Schmerz erzählte, waren die Männer gedämpfter Stimmung. Schließlich kam die Nachhut in Sicht. Vesputo lenkte missmutig sein Ross in den Schlosshof. Ihm folgte eine kleine Gruppe Krieger. Der König ging ihnen entgegen, reichte Vesputo die Hand und half seinem Günstling vom Pferd.
    „Alle Truppen vollständig?" Vesputo nickte.
    „Sehr gut, Hauptmann. Geht hinein und erfrischt Euch. Das habt Ihr Euch wohl verdient."
    Vesputo holte tief Atem und sprach die förmlichen Worte, die er so oft schon gehört hatte in den fünf Jahren, seit er im Dienste des Königs Kareed stand. „Mein Herz ist voll Trauer über den Fortgang einer von Euch geliebten Seele."
    Kareed legte eine Hand auf die Brust, dann ließ er sie wieder fallen.
    „Möge Gott uns am Ende meiner Tage wieder vereinen." Kareed dachte an die vielen gemeinsam geschlagenen Schlachten. „Ein Sohn."
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