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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin
Autoren: Victoria Hanley
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genug!" Während Zeon versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, sprach der Wächter zu Dreea gewandt: „Entschuldigt die Störung, Majestät. Wenn man den Jungen glauben kann, wird Euer Mann bei Sonnenuntergang eintreffen."
    Dreea verspürte ein merkwürdiges Ziehen im Herzen. Ohne Nachzudenken stand sie auf und machte einen Schritt auf die Tür zu. Sie hörte ein Krachen und sah sich überrascht nach Mirandae um, die mit ausgebreiteten Armen auf sie zueilte. Dann kippten irgendwie die Wände auf sie ein und das Licht ging aus, begleitet von einem aufsteigenden, dumpfen Brausen in ihren Ohren.
    Torina hatte kaum bemerkt, dass ihre Mutter umgefallen war und Mirandae das Spinnrad umgeworfen hatte, als sie ihr zur Hilfe eilen wollte. Die kleine Prinzessin hatte nur eins im Kopf, sie wollte vor Zeon draußen sein. Jetzt lag sie mit gelöstem, wehenden Haar auf Stinas Nacken und trieb das Pferd zu immer schnellerem Galopp an. Über den herannahenden Reitern verfingen sich die Strahlen der untergehenden Sonne in einer Staubwolke, aus der der Goldhelm des Königs aufblitzte. Sein brauner Hengst stürmte vorneweg. Mit einem Streich wurde die Prinzessin vom Pferd gefegt und Rotbart und Rotlocke verschmolzen in einer stürmischen Umarmung.
    „Wie geht es meinem Prinzesschen! Hier draußen, ohne
    Bewachung? Hast du dich wieder davongemacht?"
    „Ich wollte Euch entgegenreiten."
    „Und jetzt bin ich da."
    „Habt Ihr den Krieg gewonnen?"
    Der König schnaubte verächtlich. „Wäre ich sonst nach Hause gekommen?"
    Torina strahlte glücklich über den Sieg des Vaters. Langsam trabten sie dahin, Torinas Pferd trottete neben ihnen her. Kareed erkundigte sich nach dem Gesundheitszustand der Mutter und sie antwortete, die Königin sei wohlauf. Lächelnd beugte sich Kareed zu seiner Satteltasche hinunter und zog seine geschlossene Faust hervor.
    „Das habe ich für dich den ganzen, weiten Weg aus Bellandra mitgebracht. Halt die Hand auf." Er legte eine Kristallkugel in ihre Hand, die sie kaum
    mit den Fingern umschließen konnte. Torina hielt sie gegen die verglühende Sonne. Im Innern der Kugel brach sich vielfältig das Licht, eine Welt von Gold. „Wie schön", sagte sie staunend und kuschelte sich tiefer in die Armbeuge des Vaters. Solche Momente waren rar, wo sie ganz allein mit dem König sein konnte, ohne dass Krieger, Bittsteller oder Diener in der Nähe waren. Plötzlich erklang vom Schloss her das Schlagen von Hufen. Der Wächter, der Zeon aus dem Gemach der Königin gejagt hatte, galoppierte heran.
    „Edler Herr", keuchte er, „entschuldigt, mein Herr, die
    Prinzessin, sie ist entwischt..."
    „Sie ist eben eine wahre Königstochter."
    Der Wächter biss sich auf die Lippen. „Herr, ich - die
    Königin ist verfrüht..."
    Das freundliche Lächeln des Königs wich einem finsteren Blick.
    „Vesputo!", bellte er. Aus der Reiterschar hinter ihnen löste sich ein Mann und preschte vor. Seine auffallend markanten Gesichtszüge wurden von einem dunkeln Schnauzbart und buschigen Augenbrauen unterstrichen. „Herr?"
    „Nehmt das Kind." Torina wurde auf Vesputos Sattel gehoben, als ob sie nicht alt genug wäre, selbst auf- und wieder abzusteigen. „Wenn Ihr sie sicher nach Hause gebracht habt, reitet zurück und kontrolliert den Heimmarsch der Truppen."
    „Sehr wohl, mein Herr." „Aber ich kann doch auf Stina reiten, Papa!" Der König schenkte ihr nicht einmal einen Blick und galoppierte mit dem Wächter davon. Eine Staubwolke verhüllte ihre Pferde im Dämmerlicht über der Ebene. Torina saß ganz still im Damensitz auf Vesputos Pferd und hielt die Kristallkugel umklammert. „Was meinte der Wächter wegen meiner Mutter?" Der Krieger zuckte die Achseln.
    Torina starrte den Kristall an, drehte ihn sachte hin und her. Sie hielt ihn dicht vor die Augen. Da plötzlich stockte ihr der Atem, denn aus dem verblassenden Licht in seinem Inneren erstand langsam ein Gesicht. Das Gesicht ihrer Mutter, bleich, erschöpft, auf Kissen gebettet. Ein fremdes Gesicht beugte sich über sie, das Gesicht einer Frau. Torina wusste, dass dieses Gesicht einer Hebamme gehörte.
    Die Hebamme ergriff die Hände der Königin und rieb sie. Jetzt hörte sie ihre Stimme, sie hallte wie ein Echo in Torinas Kopf, als vermischten sich die Worte der Hebamme mit dem Geräusch der Brandung. „Ein Sohn, edle Frau. Er ist tot." Dreeas Gesicht verzog sich zu einem Schluchzen. „NEIN!", schrie Torina, rutschte von Vesputos Sattel und rannte zu Stina, ihrem
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