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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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wirst doch einen fähigen Oberarzt kennen. Wenn die Ärzte hier nicht in der Lage sind ...«
    »Mama, die Ärzte hier sind so kompetent, wie man es sich nur wünschen kann. Es ist einfach ...«
    »Und warum finden sie dann nichts?« Beatrices Mutter schrie fast. »Das Kind fällt doch nicht einfach so aus heiterem Himmel ins Koma! Haben sie schon ihren Blutzucker gemessen?« Sie wandte sich an Beatrices Vater, ihre Augen glänzten fiebrig. »Fritz, erinnerst du dich an den Mann von Frau Schmidtke? Er lag eine ganze Weile im Koma, weil er einen viel zu hohen Blutzucker hatte. Vielleicht hat Michelle ja auch ...«
    Beatrice schüttelte langsam den Kopf. Ein heftiger Schmerz begann hinter ihren Augenbrauen zu pochen.
    »Glaub mir,'das war einer der ersten Werte, den die Ärzte hier überprüft haben. Michelles Blutzuckerspiegel ist völlig normal. Es ist alles normal - die Laborwerte, das EKG, die Hirnströme, sogar die Röntgenaufnahmen vom Kopf. Dr. Neumeier hat mir die Befunde gezeigt. Trotzdem wacht sie nicht auf. Warum? Ich kann es dir nicht sagen.«
    »Wie geht es ihr denn?«, fragte ihre Mutter. »Wie sieht sie aus?«
    »Wie ein kleiner Engel.«
    Sie spürte ein heftiges Brennen in den Augen. Lange würde sie die Tränen nicht mehr zurückhalten können, bald würden alle Dämme brechen. Und dann? Wer sollte ihren Eltern Kraft geben? Wer von ihnen dreien war in der Lage, mit dieser Situation umzugehen, sie zu durchschauen, wenn nicht sie? Wenn sie jetzt auch noch die Nerven verlor, würde sich dieses Wartezimmer endgültig in den Vorraum zur Hölle verwandeln - mit Heulen und Zähneklappern und allem, was dazugehörte.
    Beatrices Mutter schluchzte leise und zog mit zitternden Händen ein neues Taschentuch aus einer Packung.
    »Fritz, besorg uns einen Kaffee«, sagte sie. Ihr Vater trottete zum Kaffeeautomaten, willenlos, reflexartig. Nicht dass er jemals Widerspruch gegen die Befehle ihrer Mutter erhoben hätte. Trotzdem war er nur ein Schatten seiner selbst. Er litt, als hätte man ihm eben beide Beine abgeschnitten.
    »Und sie wissen wirklich nichts?«, fragte ihre Mutter noch einmal voller verzweifelter Hoffnung. »Gar nichts?«
    »Nein.« Beatrice nahm den Plastikbecher mit der dampfenden schwarzen Flüssigkeit, den ihr Vater ihr reichte. Doch sie trank nicht. Sie wärmte lediglich ihre eiskalten Finger daran. »Weil alle Befunde bisher normal sind, haben die Ärzte noch nicht einmal einen Anhaltspunkt. Dr. Neumeier bat mich, darüber nachzudenken. Außerdem wollen sie einen Psychologen hinzuziehen.«
    Beatrices Mutter fuhr im Sessel auf, als hätte sie eine Wespe gestochen.
    »Glaubst du etwa, dass es meine Schuld ist?«, rief sie. »Glaubst du wirklich, ich würde irgendetwas tun, das unserer Kleinen gefährlich werden könnte? Ich würde sie misshandeln? Ich habe doch nur ...«
    »Ich weiß, Mama, ich weiß«, beschwichtigte Beatrice. Sie stellte den Becher auf den Tisch und stützte müde ihren Kopf auf die Knie. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand eine riesige hundertfünfzig Kilogramm schwere Hantel auf die Schultern geladen. »Du passt sehr gut auf Michelle auf. Wenn es anders wäre, würde ich sie dir schließlich gar nicht erst anvertrauen. Und gerade deshalb brauche ich jetzt deine Hilfe. Was hat Michelle getan, nachdem sie aus dem Kindergarten kam? Kann sie etwas getrunken oder gegessen haben, das unter Umständen gefährlich ist? Ist dir irgendetwas an ihr und ihrem Verhalten aufgefallen?«
    Beatrices Mutter schien besänftigt zu sein. Sie legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach.
    »Ich habe auch schon überlegt, aber ich weiß nichts«, sagte sie nach einer Weile und zuckte mit den Schultern. »Mir fällt nichts ein.«
    Beatrice sprang auf und begann im Warteraum hin und her zu gehen. Sie hielt es nicht mehr aus. Diese Warterei, diese
    Hilflosigkeit. Es war gegen ihre Natur. Niemals war sie in einer vergleichbaren Situation gewesen. Niemals hatte sie einfach nur zusehen müssen, wie ein ihr nahe stehender Mensch litt, ohne dass sie wenigstens etwas zur Linderung beitragen konnte.
    Nein, korrigierte sie sich, du hast es schon einmal erlebt - Dschinkim. Ihm hast du nicht helfen können.
    Natürlich war die Situation eine andere gewesen. Im China des Mittelalters hatte sie keine intensivmedizinische Ausrüstung zur Verfügung gehabt, keine Infusionslösungen oder Gegenmittel, um die heimtückische Vergiftung zu behandeln. Trotzdem wurde ihr Mund jetzt trocken, und ihr Herz begann
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