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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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sah aus, als ob sie einfach nur schliefe, tief und friedlich, so wie jede Nacht, wenn sie selbst um halb zwölf auf Zehenspitzen in das Kinderzimmer schlich, um dort noch einmal nach dem Rechten zu sehen.
    »Sie atmet selbstständig und regelmäßig«, sagte Dr. Neumeier, als hätte er Beatrices Gedanken gelesen, und sah sich einen der vielen Monitore an.
    Nur widerwillig erinnerte sich Beatrice daran, dass sie ebenfalls Ärztin war, dass sie in der Lage war, die Piepstöne und Kurven auf den Monitoren zu interpretieren. Und dann fiel ihr ein, dass sie vielleicht selbst etwas zu Michelles Heilung beitragen konnte. Entschlossen richtete sie den Blick von ihrer Tochter auf die Geräte. Sie fühlte sich, als ob sie gerade erst aufgewacht wäre.
    Das EKG sah normal aus, die Atemfrequenz war gleichmäßig, der Blutdruck und die Sauerstoffsättigung waren in Ordnung, und das EEG war ebenfalls normal - sofern sie das beurteilen konnte. Ihre Erfahrungen in der Kinderheilkunde beschränkten sich neben Ernährung und Säuglingspflege auf Schnupfen, Blähungen und Dreitagefieber. Wenn sie jedoch der medizinischen Technik und ihrem rudimentären pädiatrischen Wissen trauen wollte, so hatte sie hier ein gesundes fast vierjähriges Mädchen vor sich, das lediglich fest schlief.
    »Wie sind ihre Laborwerte?«, fragte Beatrice und begann unwillkürlich zu flüstern, als hätte sie Angst davor, die Kleine zu wecken.
    Dr. Neumeier nahm die Akte' vom Fußende des Bettes und blätterte darin. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.
    »Nichts. Keine Auffälligkeiten. Alles normal. Hb, Leukozyten, Differenzialblutbild, Blutsenkung, CRP, Glukose, Elektrolyte ... Alles so, wie wir es bei einem gesunden Kind in Michelles Alter erwarten würden. Wir haben keinen Hinweis auf eine Infektion oder eine Stoffwechselstörung. Zur Sicherheit haben wir sogar ein Drogenscreening gemacht und noch einige andere Substanzen getestet, die erfahrungsgemäß bei kindlichen Vergiftungen eine Rolle spielen können, wie zum Beispiel Alkohol und Nikotin.« Er hob beschwichtigend die Hände, um Beatrices Protest bereits im Keim zu ersticken.
    »Ich weiß, Eltern sind immer entsetzt, wenn wir darüber sprechen. Aber Sie glauben gar nicht, wie erfinderisch Kinder darin sind, irgendwelche Dinge zu schlucken, angefangen vom Gebissreiniger der Großmutter über Papas Zigarrenvorrat bis hin zu einer ganzen Flasche Champagner auf einmal. Die Kleinen sind große Künstler, wenn es darum geht, Verbotenes aufzustöbern und heimlich zu öffnen. Und da reichen oft schon die zwei Minuten, in denen die Mama zum Briefkasten geht.« Er lächelte, als ob er diese Neigung sehr gut verstehen könnte. »Allerdings bekommen wir in den meisten Fällen einen Hinweis von den Eltern oder Betreuern. Eine leere Packung Zigaretten zum Beispiel, die neben dem Kind gefunden wurde. In Michelles Fall hingegen wissen wir noch gar nichts. Einige Laborwerte stehen zwar noch aus, aber alle Ergebnisse, die uns bislang vorliegen, waren negativ. Ich bin ehrlich«, Dr. Neumeier zuckte mit den Schultern und klemmte die Akte wieder in ihre Halterung, »wir stehen vor einem Rätsel.«
    »Haben Sie schon ein CCT gemacht?«, fragte Beatrice. »Vielleicht ist Michelle im Kindergarten vom Gerüst gefallen und hat sich dabei eine Hirnverletzung zugezogen?« Oder es ist ein Tumor. Aber diesen Gedanken sprach sie nicht aus.
    »Sie meinen eine Blutung, die erst im Laufe des Nachmittags manifest wurde?« Er nickte. »Sie haben Recht, auch wir haben daran gedacht. Im Kindesalter kommt das gar nicht so selten vor. Aber die Computertomographie war ebenfalls ohne pathologischen Befund. Ihre Tochter hat weder ein subdurales Hämatom noch einen bisher unbekannten Tumor. Zum Glück. Aber wenn ich ehrlich bin, haben wir auch nicht damit gerechnet, denn ihre Reflexe sind ebenfalls völlig normal.« Dann deutete er auf einen der Monitore. »Am meisten Kopfzerbrechen bereitet mir das EEG. Sehen sie diese Kurve?
    Wenn ich es nicht besser wüsste, wenn wir nicht schon mit allen Mitteln - inklusive Schmerzreizen - versucht hätten, ihre Tochter zu wecken, würde ich einfach behaupten, dass sie schläft. Diese Hirnströme ähneln verblüffend denen eines lebhaft träumenden Menschen.«
    Beatrice strich ihrer kleinen Tochter das Haar aus der Stirn, auf der eine der EEG-Elektroden klebte. Das Kind fühlte sich weder heiß noch kalt an, weder fiebrig noch unterkühlt. Ihre Körpertemperatur war anscheinend ebenso normal wie
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