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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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und stand auf. Trotzdem kam sie sich neben dem riesigen Kollegen vor wie ein kleines verschrecktes Mäuschen. »Das bin ich.«
    »Neumeier«, sagte er, streckte ihr die Hand entgegen und warf einen kurzen Blick auf ihr weißes Hemd mit dem aufgedruckten Namensschild und dem Wappen des Krankenhauses, in dem sie arbeitete. »Setzen Sie sich doch bitte.«
    Er deutete auf den Sessel, wartete, bis Beatrice und ihre Eltern wieder Platz genommen hatten, und setzte sich dann ebenfalls.
    »Sie sind Kollegin?«, fragte er.
    »Ja. Was ist mit meiner Tochter?«
    Er kratzte sich am Kopf, ratlos, unsicher, als wüsste er nicht, wie er es ihr am besten beibringen sollte. Aber was?
    »Tja, wie soll ich es ausdrücken«, begann er, runzelte die Stirn und legte die Fingerspitzen gegeneinander. Er hatte große, breite Hände. Beatrice fiel es schwer zu glauben, dass er imstande war, mit diesen riesigen Händen zarte kleine Kinder zu untersuchen. Doch seine Augen waren freundlich. Und das gab den Ausschlag. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Wir wissen immer noch nicht, was Ihrer Tochter fehlt. Aber vielleicht kommen Sie mit und sehen es sich selbst an.«
    Beatrice erhob sich sofort. Dann warf sie einen Blick auf ihre Eltern, die sie anschauten wie zwei Verdurstende.
    »Was ist mit ihnen? Sie sind Michelles Großeltern.«
    Dr. Neumeier hob bedauernd die Schultern.
    »Ich muss Sie bitten, noch eine Weile zu warten. Solange wir nichts Genaues wissen, können wir es nicht riskieren, mehrere Besucher gleichzeitig zu der Kleinen vorzulassen. Bitte haben Sie dafür Verständnis. Es ist im Interesse ihrer Enkelin. «
    Beatrices Vater nickte ergeben, doch ihre Mutter schien zuerst empört Einwände erheben zu wollen. Dann überlegte sie es sich wohl anders, sank kraftlos in ihren Sessel zurück und brach wieder in Tränen aus.
    Beatrice folgte Dr. Neumeier zur Schleuse, wo er ihr einen jener langen Kittel gab, die Besucher auf Intensivstationen trugen.
    »Welcher Fachrichtung gehören Sie an, Frau Helmer?«, erkundigte er sich, während sie sich beide an dem an der Wand hängenden Sterilium-Spender bedienten und ihre Hände damit einrieben.
    »Chirurgie«, antwortete Beatrice und versuchte durch den Mund zu atmen. Der vertraute Geruch des Desinfektionsmittels, den sie manchmal sogar lieber mochte als viele teure Designer-Parfüms, verursachte ihr heute Übelkeit.
    Dr. Neumeier betätigte den Türöffner, und die Tür glitt automatisch zur Seite. Obwohl Beatrice schon oft auf Intensivstationen gewesen war, sogar im Rahmen ihrer chirurgischen Ausbildung einige Monate dort gearbeitet hatte, war es hier anders. Dabei hing derselbe schwere Geruch nach Desinfektionsmitteln in der Luft. Die Schuhe der Schwestern und Arzte quietschten ebenso wie überall über das Linoleum, die Beatmungs- und EKG-Geräte piepsten. Aber die Betten, die hier standen, waren klein. Und die Körper, die regungslos und zum Teil bis zur Unkenntlichkeit bandagiert unter den dünnen Decken und Sauerstoffzelten lagen, angeschlossen an hunderte von Schläuchen und Messelektroden, waren klein und zart. Es waren alles Kinder. Kleine Kinder.
    Natürlich, dachte Beatrice. Sie befand sich schließlich in einem Kinderkrankenhaus. Trotzdem traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag mit einem kalten, feuchten Waschlappen mitten ins Gesicht. Es gab Dinge, die durften einfach nicht passieren, die durfte es nicht geben. Das war nicht richtig, das verstieß gegen die Natur, gegen die gottgewollte Ordnung. Dazu gehörten auch schwer kranke Kinder, die angeschlossen an Geräte auf einer Intensivstation lagen. Und doch war dies hier die Realität.
    »Dort liegt Michelle«, sagte Dr. Neumeier und deutete auf ein Bett, das in der Mitte zwischen zwei leeren Betten stand.
    Beatrice trat langsam näher. Sie schloss die Augen und versuchte sich gegen den Anblick ihrer schwer kranken Tochter zu wappnen. Doch das, was sie sah, als sie die Augen wieder öffnete, traf sie völlig überraschend.
    Michelle lag auf dem Bett, regungslos, mit geschlossenen Augen. Ihr langes blondes Haar breitete sich auf dem Kissen aus wie ein kleiner Heiligenschein. Sie hatte keine sichtbaren Verletzungen, war auch nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen, und ihre Wangen waren rosig. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als ob sie gerade ein kleines kuschelig weiches Kätzchen streichelte. Wenn das weiße Laken und die anderen Geräte nicht gewesen wären, Beatrice hätte nie geglaubt, dass ihre Tochter schwer krank war. Sie
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