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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon
Autoren: Jonathan Barnes
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zusammen.
    Ich halte diesen Umstand für höchst bedeutungsvoll,
denn er scheint mir zu zeigen, dass uns London in solchen Augenblicken sein
wahres Selbst offenbart – seine kloakenhafte Natur, den Totenschädel unter
seiner Haut. Ich glaube, das soll eine Warnung sein, ein Vorwurf, eine Rüge.
    Denn wie anders könnte das alles sein, wäre uns
Erfolg beschieden gewesen! Klatschmohn und Gänseblümchen würden wachsen, wo
Banken und Bürohäuser stehen; das verkommene London in seinem jetzigen Zustand
wäre zu Staub und Asche zerfallen, und an seiner Stelle würde ein Staatswesen
namens Pantisokratie blühen und gedeihen. Ein Traum, sagen Sie? Ein kindisches
Hirngespinst? Vielleicht.
    Zweieinhalb Stunden nachdem Hawkers
sengender Händedruck ihm eine Ohnmacht beschert hatte, schlug Mister Dedlock
die Augen auf und stemmte sich benommen hoch. Glücklicherweise war er aus
seiner Betäubung ohne offensichtliche Nachwirkungen erwacht, wenn man von einem
pochenden Kopfschmerz absah – nicht schlimmer als an zahllosen Morgen nach
einem allzu tiefen abendlichen Blick ins Glas.
    Rund um ihn waren alle Brände gelöscht worden, die
Toten hatte man weggeschafft und die Wunden der Gehfähigen verbunden –
alles war gesäubert, geputzt und aufgeräumt. In einem Tag würde das jetzige
Schlachtfeld wieder in seinem gewohnten Zustand sein, und die Bürger würden
sich bemühen, so zu tun, als wäre dort eigentlich gar nichts passiert. Es war,
als hätten die Überlebenden der Schlacht von Hastings nachher einfach die
Trümmer weggekehrt, die Gefallenen fortgeräumt und gehofft, alles würde morgen
wieder seinen normalen Gang gehen. Was für ein engstirniges Verhalten! London
war nur um Haaresbreite seiner völligen Zerstörung entgangen, und seine
Bewohner hatten sich aufgeführt wie Kinder im Dunkeln: Sie hatten sich die
Augen zugehalten und gehofft, es würde gleich wieder hell. Die Kirche des
Sommerkönigreichs hatte ihnen Erlösung angeboten, aber sie begnügten sich
damit, weiterzuleben wie bisher – in Unwissenheit, Laster und Sünde.
    Selbstverständlich ging Dedlock keiner dieser
Gedanken durch den Kopf, als er sich beifällig umsah. Nein, er verspürte bloß
Erleichterung, dass der Zwischenfall vorbei war, und dass er ihn unbeschadet
überlebt hatte. Ein wenig verlegen räusperte er sich, schritt hinüber zur
erstbesten Gruppe von Schutzmännern und fing an, barsche Befehle auszuteilen.
    Aber Dedlock hatte sich verändert. Erst Stunden
später, als er nach Hause gekommen war und sich fürs Zubettgehen zurechtmachte,
fiel sein Blick in einen Spiegel. Und da erkannte er zum ersten Mal, was die
Präfekten tatsächlich mit ihm angestellt hatten – erkannte er die ganze
Tücke ihres versprochenen Geschenks.
    Die Narben auf seiner Brust waren nicht mehr
vorhanden, ebensowenig wie die in seinem Gesicht – diese milchweißen
Furchen, die sich zuvor so eindrucksvoll kreuz und quer über seinen ganzen
Körper gezogen hatten: Sie alle waren verschwunden, so mühelos weggewischt wie
die Kreideschrift des Schlafwandlers von seiner Tafel. Dedlock betrachtete
seine unversehrte und nunmehr glatte Brust und war angewidert von dem, was er
da sah – so alltäglich, so billig, so unerträglich nichtssagend.
    Plötzlich raubte ihm der Anblick den Atem. Er riss
sich den Rest seiner Kleider vom Leib, ließ sich aufs Bett fallen und tat
etwas, das er seit fast zwanzig Jahren nicht mehr getan hatte.
    Am Morgen, als er sich im Klub der Überlebenden
einfand, um sein Abschiedsgesuch einzureichen, waren seine Augen immer noch rot
und geschwollen vom Weinen.
    Ja, die Präfekten wussten genau, was
sie taten. Doch verglichen mit dem Albino kam Dedlock glimpflich davon.
    Ich bin mir nicht sicher, inwieweit ich
es fertigbringe, Ihnen zu berichten, was Mister Skimpole widerfuhr. Wo soll ich
beginnen? An welchem Punkt dieses langsamen und erniedrigenden Todes? Bei der
endlosen, qualvollen Fahrt zurück nach Wimbledon? Bei dem Moment, als er aus
der Mietsdroschke geworfen wurde, nachdem er eine leimartige rote Masse auf die
Sitze erbrochen hatte? Als er darauf hinunterblickte und sich fragte, ob
irgendetwas in diesem übelriechenden Schleim nicht die letzten Reste seiner
Magenwände waren?
    Nein, das alles erspare ich Ihnen. Ich denke, wir
fangen dort an, wo der Mann zu Hause ankam, sich zum letzten Mal mit Schlüssel
und Schloss abmühte, während das Dröhnen des Schmerzes in seinem Kopf selbst
den Lärm überdeckte, den seine lauten Nachbarn
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