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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon
Autoren: Jonathan Barnes
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spürte, wie sich der Lauf eines
Revolvers an meinen Hinterkopf presste.
    »Der Schlafwandler ist tot.«
    »Edward?«, fragte ich kraftlos.
    Er packte mich und wirbelte mich herum; die Waffe
richtete sich nun auf meine Stirn. »Der Schlafwandler ist tot«, wiederholte er
mit ausdrucksloser, tonloser Stimme.
    Ich fragte mich, wie um alles in der Welt ich mich
entschuldigen könnte, ohne unaufrichtig zu klingen.
    »Tut mir leid«, sagte ich schließlich und hob die
Schultern. »Ich hielt ihn für unzerstörbar.«
    Ich bezweifle, dass Sie unter diesen
Umständen etwas Besseres zustandegebracht hätten.
    Moon drückte die Waffe fester gegen
meine Stirn und schien kurz davor, den Abzug zu betätigen, als er von einer
wohlbekannten Stimme aufgehalten wurde.
    »Sie müssen Edward Moon sein.«
    »Was wollen Sie?«
    »Mein Name ist Thomas Cribb.« Mir wurde klar, dass
der hässliche Mensch hinter mir stand und den Detektiv ansah. »Ich würde Ihnen
ja gern die Hand reichen, aber Sie haben gerade keine frei.«
    »Wie?«
    »Sie sind im Begriff, einen großen Fehler zu
machen«, sagte Cribb.
    »Ich dachte, Sie hätten sich
Love
angeschlossen.«
    »Ich? Nun, möglicherweise tue ich das noch. Aber
das geschieht erst morgen.«
    »Sagen Sie mir einen guten Grund, warum ich ihn
nicht erschießen soll!«
    »Nur diesen.« Ich konnte hören, dass Cribb es mit
einem Lächeln sagte. »Sie tun es nicht. Ich habe die Zukunft gesehen, und
Reverend Doktor Tan schmachtet in einer Gefängniszelle.«
    Aus dem Augenwinkel sah ich Polizisten und den
Inspektor näherkommen, doch dann hielten sie inne und warteten offenbar ab, wie
sich die Situation entwickeln würde. Vermutlich habe ich kein Recht, ärgerlich
zu sein, aber ich finde, es wäre ihre Pflicht gewesen, mich zu retten, und
nicht dazustehen und auf meine Ermordung zu lauern.
    »Stirbt er?«, fragte Moon mit – das muss ich
anmerken – entbehrlich blutdürstigem Unterton. »Wird er hingerichtet?«
    »Man wird ihn nicht hängen«, sagte Cribb.
    »Also keine Gerechtigkeit?«
    »Eines kann ich Ihnen versprechen: Er wird sattsam
bestraft. Er leidet. Bitte, legen Sie die Waffe weg.«
    Eine Sekunde lang sah es ganz so aus, als würde
Moon sein Vorhaben doch noch zu Ende führen.
    »Bitte!«, wiederholte Cribb. Moon schien
nachzugeben und schickte sich an, den Revolver in seine Jackentasche zu
stecken. Doch im letzten Augenblick hob er die Waffe wieder und richtete sie
auf mein Gesicht.
    »Nein!«, schrie Cribb.
    Moon erschrak, zuckte zusammen und betätigte den
Abzug. Die Kugel ging jedoch vorbei, verfehlte mich (obwohl ich vermeine,
gespürt zu haben, wie sie meine Wange streifte) und traf stattdessen den
hässlichen Menschen hinter mir. Sie konnte nicht viel Schaden angerichtet
haben, dennoch ließ er sich zu Boden fallen, wimmerte in der Hoffnung auf
Mitgefühl und umklammerte seine linke Hand.
    Endlich kam die Polizei (keinen Moment zu früh).
Ich wurde grob hochgerissen, und man legte mir Handschellen an – ohne
Rücksichtnahme darauf, dass sie scheuerten. Ich wurde weggeführt, und Moon
sagte kein Wort.
    Doch nachdem ich einige Schritte zurückgelegt
hatte, hörte ich ihn etwas rufen. Cribbs Namen vielleicht? Es konnte sein, aber
ich habe stets eine seltsame Gewissheit verspürt, dass sein Ruf sich auf jemand
anderen bezog. »Der Schlafwandler ist tot!«, rief er, und dann, leiser: »Der
Schlafwandler ist tot.«

ZWANZIG
    Es geschieht jeden Morgen im Untergrund
der Stadt. Sehr wahrscheinlich haben Sie es selbst bereits bemerkt.
    In der Hauptverkehrszeit, wenn sich all diese in
den Vorortezügen eingekeilten Pendler in der Station Monument aus den Zügen
kämpfen – jeder einzelne von ihnen in Nadelstreifen und Melone, bereit,
sich in die gnadenlose Tretmühle seines neuen Arbeitstags zu begeben –,
werden sie Zeuge einer ganz besonderen Erscheinung.
    Scheiße. Der überwältigende Gestank danach raubt
einem den Atem. Aus verlässlicher Quelle höre ich, dass sich manch eine Nase
vor Ekel kraust, sich manch eine Nummer der
Times
zu einem
behelfsmäßigen Fächer faltet, und manch ein Taschentuch taktvoll gegen ein
Gesicht presst. Die Passagiere sind jedoch so gewöhnt an die ächzenden,
schäbigen Züge der Stadt, dass sie diese Unzumutbarkeit kommentarlos hinnehmen
und mit zusammengebissenen Zähnen gleichmütig ihren Weg fortsetzen. Ich habe
keine Ahnung, wie es zu diesem Geruchsphänomen kommt, doch ich nehme an, es
hängt mit der unseligen Nähe der Bahntunnel zum Kanalnetz
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