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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4
Autoren: Clive Barker
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unten dort, wo er hingestürzt war, das Genick gebrochen. Der Notausgang, der zur Feuerleiter führte, stand offen; rauchige Luft wurde durch ihn hinausgesaugt. Als Carnegie sich von Johannsons Leiche abwandte, waren Beamte bereits auf der Feuerleiter und riefen ihren Kollegen unten zu, nach dem Flüchtigen Ausschau zu halten.
    »Sir?«
    Carnegie blickte zu der schnurrbärtigen Person hinüber, die sich ihm genähert hatte. »Was gibt’s?«
    Der Beamte deutete zum anderen Ende des Labors, auf die Testkammer. Dort war jemand am Fenster. Carnegie erkannte die Gesichtszüge, obwohl sie sehr verändert waren. Es war Jerome. Zuerst glaubte er, der Mann beobachte ihn, aber eine kurze Überprüfung eliminierte diesen Gedanken. Jerome starrte mit Tränen im Gesicht auf sein eigenes Spiegelbild in der verschmierten Scheibe. Vor Carnegies Augen tauchte das Gesicht jetzt wieder im düstern Zwielicht der Kammer unter.
    Andere Beamte hatten den Mann auch bemerkt. Sie pirschten sich durch das Labor voran, die Waffen schußbereit, und gingen hinter den Werkbänken in Stellung, von wo aus sie eine gute Feuerlinie zur Tür hatten. Carnegie hatte solche Situationen schon früher miterlebt; sie hatten ihre eigene, schreckliche Dynamik. Wenn er nicht eingriffe, würde Blut fließen.
    »Nein«, sagte er, »nicht schießen.«

    Er drängte einen protestierenden Beamten beiseite und begann, das Labor zu durchqueren, ohne den Versuch zu machen, sein Vorrücken zu verschleiern. Er ging an Ausgüssen vorbei, in denen die Reste von Blinder Junge wegsickerten; an der Werkbank, unter der sie, vor einer kleinen Ewigkeit, die tote Dance gefunden hatten. Mit gesenktem Kopf schleppte sich ein Affe über seinen Weg, offenbar taub für seine Nähe. Er ließ ihn ein Schlupfloch zum Sterben finden, schritt dann weiter zur Kammertür. Sie war angelehnt. Er faßte nach der Klinke. Hinter ihm war im Labor absolute Stille eingetreten; aller Augen ruhten auf ihm. Er riß die Tür auf. Finger spannten sich um Abzüge. Carnegie wurde jedoch nicht angegriffen. Er ging hinein.
    Jerome lehnte an der gegenüberliegenden Wand. Falls er Carnegie hereinkommen sah oder ihn hörte, ließ er sich das nicht anmerken. Ein toter Affe lag ihm zu Füßen, dessen eine Hand noch immer den Saum von Jeromes Hose umklammerte.
    Ein anderer wimmerte in der Ecke, hielt den Kopf zwischen beiden Händen.
    »Jerome?«
    Bildete sich Carnegie das nur ein, oder konnte er Erdbeeren riechen?
    Jerome sah verständnislos drein.
    »Sie sind verhaftet«, sagte Carnegie. Hendrix wüßte das Ironische dran zu schätzen, dachte er. Der Mann bewegte seine blutige Hand von der Stichwunde in seiner Seite vor seine offene Hose und begann, sich zu streicheln.
    »Zu spät«, sagte Jerome. Er konnte spüren, wie das letzte Feuer in ihm aufloderte. Selbst wenn dieser Eindringling beschlösse, die Kammer zu durchqueren und ihn augenblicklich festzunehmen, würden ihm die dazwischenliegenden Sekunden seine Gefangennahme zunichte machen. Der Tod war hier. Und was war der, jetzt da er ihn klar und deutlich vor sich sah? Bloß eine weitere Verlockung, eine weitere süße Dunkelheit, die es auszufüllen, lustvoll zu befriedigen und zu befruchten galt.
    Ein Spasmus setzte in seinem Perineum ein, und ein Blitz pflanzte sich von dieser Stelle nach zwei Richtungen fort: in seine Rute hinein und sein Rückgrat hinauf. Ein Lachen setzte ein in seiner Kehle.
    In der Ecke der Kammer begann der Affe, der Jeromes Heiterkeitsausbruch hörte, erneut zu wimmern. Das Geräusch nahm vorübergehend Carnegies Aufmerksamkeit in Anspruch, und als sein Blick zu Jerome zurückhuschte, hatten sich dessen kurzsichtige Augen geschlossen, die Hand war herabgefallen, und er, aufrecht an der Wand lehnend, war tot. Eine kurze Zeit lang widersetzte sich der Körper der Schwerkraft. Dann knickten graziös die Beine ein, und Jerome kippte vornüber. Er war ein Sack Knochen, bemerkte Carnegie, mehr nicht. Es war ein Wunder, daß der Mann so lang gelebt hatte.
    Vorsichtig ging er zu dem Körper hinüber und legte seinen Finger an den Hals des Mannes. Kein Puls mehr. Die Überbleibsel von Jeromes Lachen hingegen blieben in seinem Gesicht, weigerten sich zu schwinden.
    »Sag…«, raunte Carnegie dem Mann zu und spürte dabei, daß er trotz seines Vorkaufsrechts den entscheidenden Moment verpaßt hatte; daß er wieder einmal bloß der Zeuge von Resultaten war und womöglich nie etwas anderes sein würde.
    »… sag, was war denn so lustig?
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