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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim
Autoren: Christian Mork
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Schaufel fanden sich jedoch ihre Fingerabdrücke, und das Blatt passte zu den Wunden in Mrs. Walshs Stirn. Daraus schlossen die Ermittler, dass sie der älteren Frau die Treppe hinuntergefolgt war, bis irgendetwas der Verfolgung ein Ende machte. Hinter einem Stuhl fand man ein Messer, und die Untersuchung der Leiche ergab, dass Mrs. Walsh nicht nur zweimal, sondern mindestens neunzehn Mal auf die junge Frau eingestochen hatte.
    »Das arme Kind ist schnell verblutet«, bemerkte ein älterer Polizist und schnäuzte sich.
    Die Forensiker rekonstruierten schnell, was sich hier abgespielt haben musste. Im zweiten Stock hatte ein verzweifelter Kampf stattgefunden. Mrs. Walsh hatte den Überraschungsangriff des geschwächten Mädchens abgewehrt und schließlich Erfolg gehabt. Aber die junge Frau hatte sich nicht kampflos ergeben. Erst jetzt realisierten die Forensiker, dass Mrs. Walsh nicht nur für alle Türen die einzigen Schlüssel besaß. Nur auf der Außenseite befanden sich überhaupt Schlüssellöcher. Unter dem Bett des Mädchens lagen rohe Kartoffelstücke und schimmliges Brot. Sie hatte sich offenbar ihre kargen Mahlzeiten einteilen müssen. Die Ermittler schätzten, dass sie mindestens drei Monate lang im Haus gelebt hatte. An den Bettpfosten hingen offene Hand- und Fußfesseln, die sehr abgenutzt aussahen. Der kleinste Schlüssel am Bund der selbst ernannten Gefängniswärterin passte in die Schlösser. Handgelenke und Knöchel des Kindes waren von den Metallbügeln aufgescheuert. Man entdeckte zwei verbogene Haarnadeln, braun vom verkrusteten Blut des Mädchens. So hatte sie sich also von den Fesseln befreit.
    Sie musste hier lange Zeit gefangen gehalten worden sein. Eine andere Erklärung gab es nicht.
    Und ihrer Wärterin, der geheimnisvollen Frau, die Desmond freundlich Kaffee angeboten hatte, war niemand auf die Schliche gekommen, bis es zu spät war.
    »Wir haben nichts bemerkt«, sagte der atemlose Sozialarbeiter und blinzelte in die Kameralichter hinter den Cops, als man ihn mit der grausigen Vorstellung konfrontierte, dass Mrs. Walsh, die Einsiedlerin aus dem Westen, sich offenbar vor den Augen ihrer Nachbarn eine Sklavin im Haus gehalten hatte. »Wir werden sofort Ermittlungen einleiten.« Aber die Umstehenden, deren wütenden Blicken er auswich, als er die Stufen hinuntereilte, wussten genau, was sie von seinem Gewäsch zu halten hatten. Die Frau, die zurückgezogen am Ende der Straße gelebt hatte, war ein perverses Monster gewesen. Und niemand hatte genug Interesse aufgebracht, um das zu merken. Am allerwenigsten die Regierung.
    Während die Astronauten, die Streifenpolizisten aus dem Viertel und die Hunde ihre Teile des Rätsels zu lösen versuchten, begriff Desmond besser als alle anderen, wie zutreffend diese Einschätzung war. Seit der erste Krankenwagen das arme Mädchen fortgebracht hatte, stand er auf der anderen Straßenseite, hielt sich krampfhaft an einem Gartenzaun fest und starrte auf die schokoladenfarbene Eingangstür von Nummer eins. Als es dunkel wurde, stand er immer noch dort. Die Fröhlichkeit war aus seinem Lächeln verschwunden, jetzt wirkte es unglücklich und geisterhaft. Und nach und nach begannen dieselben Leute, die Desmonds Schrullen bisher toleriert hatten, den vorzeitig kahlen Mann misstrauisch zu beobachten, wie er versuchte, einen Blick auf den geschundenen Leichnam des Mädchens zu erhaschen, als es in den Krankenwagen geschoben wurde. Das gab seinen verstohlenen Blicken in ihre Küchen eine ganz neue, beunruhigende Bedeutung. Und außerdem war es so erleichternd, die gemeinsamen Schuldgefühle dem einzigen Sündenbock anzuheften, den sie hatten.
    »Perverser!«, hörte man aus dem mit Lippenstift verkleisterten Mund einer Mutter. »Kranker Mistkerl«, fügte eine andere hinzu. Beide hatten ihm vor ein paar Tagen lächelnd Kaffee serviert.
    Aber falls sie seine indiskreten Blicke als allzu neugierig oder sogar lüstern interpretierten, so irrten sie. Ein Blick in Desmonds Seele hätte es ihnen bewiesen, denn dort existierten nur schwärzeste, klebrigste Schuld und Scham. Jetzt begriff er, was das Klopfen bedeutet hatte. Die Schreie aus dem obersten Stock waren vielleicht ... nein, ganz sicher, Hilferufe nur wenige Tage vor einem gewaltsamen Tod gewesen. Desmond nickte den Nachbarinnen benommen zu, aber sie wichen seinem Blick aus und hefteten ihre Augen starr auf die Eingangstür von Nummer eins. Als hegten sie die vergebliche Hoffnung, dass sie dies zu besseren
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