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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim
Autoren: Christian Mork
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Kappe vor der netten Mrs. Moriarty lüftete, die gerade ihren Friseursalon aufschloss, war beinahe am Ende seines täglichen Rundgangs angelangt.
    Nachdem er den Bewohnern der tristen, altmodischen Häuser am Bisset Strand ihre Post gebracht hatte, machte er kehrt und stand wieder vor Strand Street Nummer eins, an der Ecke Old Street und Gas Yard Lane. Er zögerte. Sein Postsack war beinahe leer, er musste nur noch zwei Werbeprospekte vom Supermarkt zu Mrs. Walsh bringen. In den folgenden Tagen zerbrach sich Desmond wieder und wieder seinen fiebrigen Kopf darüber, ab wann er hätte merken müssen, dass ihn in der Nähe dieses Hauses ein sehr ungutes Gefühl beschlich. Von außen wirkte es vollkommen normal. Die Fassade war in verblasstem Cremeweiß gestrichen, über dem Eingang prangte ein hölzernes Ziergitter. Aber von Anfang an hatte ihm eine Stimme in seinem Hinterkopf Warnungen über die Bewohnerin des Hauses zugeflüstert. Leider hatte er sich nicht erlaubt, auf sie zu hören.
    Mrs. Walsh hatte Desmond erst nach einem Jahr sporadischer, aber hartnäckiger Besuche erlaubt, sie »Moira« zu nennen. Sie war vor knapp drei Jahren hierhergezogen und sprach nicht darüber, woher sie gekommen war. Die Leute sagten, aus einer kleinen Stadt weit draußen in West Cork. Sie war eine attraktive Frau Mitte vierzig und gehörte zu den Glücklichen, deren Gesicht so fein geschnitten war, dass es auch im Alter anziehend bleiben würde. Wenn Desmond es gelegentlich schaffte, ihr mit seinen platten Witzen ein Lächeln zu entlocken, war sie sehr schön. Aber irgendetwas hatte sie hart gemacht, und diese Härte verwandelte sich in offene Feindseligkeit, wenn ihr jemand zu dicht auf den Pelz rückte. Auf die Einladungen ihrer neuen Nachbarn zum Tee reagierte sie von Anfang an mit höflichen Absagen, und als jemand ihr Kuchen vor die Tür stellte, um ihr ein deutliches Zeichen zu geben, ließ sie den Teller auf der Veranda stehen, bis streunende Katzen die milde Gabe aufgefressen hatten.
    Desmond war der einzige neugierige Nachbar, den sie jemals auf einen Kaffee ins Haus gelassen hatte. Vielleicht wegen seiner Einfalt und des Umstands, dass er vor den dunklen Seiten seiner Mitmenschen bereitwillig die Augen verschloss. Im letzten November hatte Mrs. Walsh auf einmal aufgehört, auf sein Klingeln zu reagieren, und all seine späteren Versuche, den Kontakt zu erneuern, wenn er sie auf der Straße traf, wurden abgewiesen. Mrs. Walsh verließ ohnehin nur selten ihre vier Wände und ging stets wortlos an ihm vorbei, immer in ihren alten Mantel gewickelt, einen Schal um den Kopf geschlungen, mit dem sie aussah wie eine Mumie. Sie hatte Desmond nie wieder ins Haus gebeten, und er und alle anderen glaubten, ihr müsse etwas Tragisches widerfahren sein. Sie ließen sie in Ruhe und gaben ihr den Raum, den sie so offensichtlich brauchte.
    Und dennoch.
    Desmond stand vor Mrs. Walshs Eingangstür, die bunten Prospekte in der Hand, und zögerte. Der Grund war dieses Gefühl, das ihn in den vergangenen Wochen jedes Mal beschlichen hatte, wenn er an ihrem Haus vorbeigegangen war. Vor kurzem hatte er drinnen Geräusche gehört, aber vermutet, dass sie vom Fernseher oder dem Radio stammten. Eine Art Wimmern, das Rufen einer jungen Stimme. Einmal hatte er ein lautes Klopfen gehört, die Vorhänge eines Fensters im zweiten Stock waren aufgerissen und dann wieder geschlossen worden. Aber da Desmond weder detektivisch veranlagt noch besonders mutig war, sondern nur neugierig, erklärte er sich diese Vorgänge als exzentrisches Verhalten eines einsamen Menschen. Ein Menschenschlag, dem auch er selbst angehörte.
    Je näher er dem Briefschlitz kam, desto steiler stellten sich die Härchen auf seinem Handrücken auf, bis sie einem blonden Wald glichen. Ein merkwürdiger Geruch stieg ihm in die Nase. Wie verdorbener Eintopf. Desmond wusste nicht genau, woher er kam. Vielleicht Algen, die am Strand verfaulten. Oder ein kaputter Kühlschrank. Ihm war klar, dass er sich selbst belog.
    Schließlich schob er das vage Gefühl düsterer Vorahnung beiseite, beugte sich vor und schob den Briefschlitz auf. Er schob einen Prospekt hinein und bemerkte einen Haufen ungeöffneter Post auf dem Boden.
    Und dann erstarrte er.
    Weit drinnen, gleich bei Mrs. Walshs Wohnzimmer, sah er etwas, das vermutlich eine Hand war.
    Sie war blauschwarz, aufgebläht wie ein aufgeblasener Gummihandschuh und ragte aus dem angrenzenden Zimmer in den Flur. Der dazugehörige Arm war ebenfalls
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