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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim
Autoren: Christian Mork
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I.
    Malahide, nördlich von Dublin. Vor nicht allzu langer Zeit.
    Die Bewohner des Ortes mieden das Haus, noch lange nachdem es desinfiziert und für Nachmieter bewohnbar gemacht worden war und die Leichen friedlich unter der Erde ruhten. »Es ist verflucht«, flüsterten die Klatschbasen in der Nachbarschaft und nickten bedeutungsschwer. »Ein Spukhaus. Todesgefahr«, riefen die Kinder, wagten aber höchstens ein oder zwei Schritte in den Vorgarten, bevor der Mut sie verließ.
    Denn was Desmond der Postbote im Inneren entdeckt hatte, konnte man nur als widernatürlich bezeichnen.
    Alle mochten Desmond, obwohl er vielleicht ein bisschen zu neugierig war. Außerdem hielt er sich sklavisch an Rituale und bemerkte sofort, wenn ein Rasen gemäht werden musste oder an einem Flaggenmast die Farbe abblätterte. Seine Schuldgefühle, so viele Einzelheiten wahrgenommen zu haben, ohne ihre wahre Bedeutung zu kennen, kosteten ihn in Verbindung mit seiner eigentlich sehr geselligen Art schließlich den Verstand.
    Am letzten glücklichen Tag seines Lebens lieferte dieser anspruchsvollste Genießer des Kaffees seiner Kunden in dem ruhigen Viertel gleich neben dem Malahider Bahnhof die Post so langsam aus, wie es gerade noch möglich war, wenn er nicht als Spanner auffallen wollte. Er begann dort, wo die Bars von New Street auf die pseudobayerische Scheußlichkeit des betonierten Jachthafens trafen, und bog nach links in Richtung Bisset Strands ein. Wie immer linste der alte Des in alle Fenster. Es war ja durchaus möglich, dass jemand, den er kannte, im Inneren mit einem frisch aufgebrühten Tässchen wartete, und auch diesmal wurde er nicht enttäuscht. Vor dem Ende des ersten Häuserblocks hatte er sich schon zwei Tassen einverleibt. Die meisten Bewohner des Viertels hatten sein einsames Bedürfnis nach Aufmerksamkeit inzwischen akzeptiert. Wenn er »zufällig vorbeikam« und sich auf einen Morgenkaffee einladen ließ, durfte er sich wenigstens für einen Augenblick fühlen, als sei er ein Mitglied ihrer Gemeinschaft. Er sagte immer: »Wunderbares Aroma.« Er beanspruchte ihre Gastfreundschaft nie über Gebühr und schenkte allen zur Begrüßung ein Lächeln, das sie augenblicklich für diese seltsame, kleine Gestalt erwärmte. Ein Grinsen, das sein ganzes Gesicht aufleuchten ließ.
    Bis Desmond die Leichen fand, galt er in der Nachbarschaft als völlig harmlos.
    Seine Freizeit, wenn man es so nennen will, verbrachte er im sicheren Hafen von Gibney's Pub, wo er verstohlen die Frauen anstarrte, wenn ihre Ehemänner gerade nicht hinsahen, und seinen kümmerlichen Lohn beim Buchmacher nebenan verwettete, wenn im Fernsehen ein Pferderennen übertragen wurde, was ziemlich oft der Fall war. Er schleppte schon seit mehr als achtzehn Jahren seinen schwarzen Postsack über die rissigen Gehwege des alten Strandbades, starrte Tag für Tag die gleichen aschgrauen Häuser an, deren Farbe vom Salz des nahen Meeres ausgebleicht war, und fühlte sich in dieser Monotonie sicher aufgehoben.
    Ein Ausflug in die nur eine halbe Zugstunde entfernte Stadt hätte eine Sehnsucht nach Überraschungen und der großen weiten Welt erfordert, die ihm unvorstellbar fremd erschien. Außerdem hätte ein solcher Ausflug seine sorgfältig geplante Tagesroutine gestört, die ihm mindestens vier gute Tassen vor der Mittagspause einbrachte. Wenn er auf dem Gehweg vorbeiging, hörten die Menschen sein Summen bis in ihre Küchen. Es waren nur sinnlose Melodiefetzen, denn er war so musikalisch wie ein Frosch, aber er wippte im Takt mit dem Kopf, und das zählte mehr als die richtige Tonlage. Er war auf eine Art und Weise glücklich, die man sonst nur bei Kindern unter zwölf Jahren findet.
    Später fragten sich alle, ob sie dieses Summen hätte warnen sollen.
    Soweit sich alle erinnern konnten, war es der vierundzwanzigste oder fünfundzwanzigste Februar kurz nach zehn Uhr morgens, als sich die tolerante Einstellung der Stadtbewohner Desmond gegenüber ein für alle Mal in Luft auflöste. Die Sonne ließ sich an diesem Tag nicht blicken. Gott wandte seinen Blick von Strand Street Nummer Eins ab und schickte stattdessen dräuende Wolken, die sich in leblosem Grau vom Meer kommend über der Stadt zusammenballten. Als wolle der Allmächtige die drohenden Ereignisse vor den Augen der Neugierigen verbergen. Die Farbwahl sollte sich als geradezu prophetisch erweisen. Desmond Kean, der in seliger Unwissenheit Mrs. Dingle im zweiten Stock von Howard's Corner zuwinkte und seine
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