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Daniel und Ismael

Daniel und Ismael

Titel: Daniel und Ismael
Autoren: J. Walther
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Lederarmband, dass ich gestern gekauft habe. Dann fährt er durch meine Haare, die kürzer geschnitten sind und mit Gel gestylt.
    “Und das?”, er hebt mein neues, bedrucktes T-Shirt auf. “Soll ich dir Kajal leihen?”
    “Würde dir das gefallen?”
    “Nein ... So bist du doch nicht. Du kannst dich so stylen, und hey, es steht dir nicht schlecht, aber du wirst trotzdem der Typ aus dem Kirchenchor bleiben. Der nette Kerl, der im Theater die zweite Besetzung spielt und alten Omas über die Straße hilft.”
    “Aber fürs Bett reiche ich dir?”
    “Ich dachte, wir haben Spaß miteinander. Haben wir doch auch.”
    “Und das muss reichen?” Ich schaue weg, denn ich will verdammt noch mal nicht weinen.
    “Sei nicht traurig. Ich bin nichts für dich. Ich war nie jemand, auf den man zählen kann.”
    Ich dringe nicht weiter in Ryan. Ich bin ein verdammter Feigling . Als ich gehe, folgt er mir zur Tür und küsst mich auf den Mund. So herzlich verabschiedet er mich zum ersten Mal.

4
    Zwei Tage später gehe ich durch die Stadt. Auf dem Markt treffe ich einen ehemaligen Klassenkameraden von mir, der jetzt auf Banker macht. Nach dem üblichen 'Hallo' und 'Wie geht’s' fragt er mich: “Hast du schon das Allerneuste gehört? Letzte Nacht haben ein paar Rechte auf offener Straße diese kleine Schwuchtel, die immer schwarz rumlief, erschlagen.”
    Wie viele Schwuchteln gibt es in dieser Stadt? Lieber Gott, lass es nicht Ryan sein. Ich versuche, meine Bestürzung zu verbergen.
    “Du meinst diesen Typ, der immer Make-up trägt und so lange Mäntel?”, frage ich möglichst ruhig.
    “Ja den, Ryan hieß der, glaub ich. Kanntest du ihn?”
    “Nei… Nein, ist nur schlimm, was so passiert.”
    “Ja echt, kann uns ja zum Glück nicht zustoßen, wir laufen ja nicht so auffällig rum. So, ich muss weiter, schönen Tag noch.”
    Ich bleibe mitten auf dem Markt stehen. Vielleicht ist es ja gar nicht wahr, versuche ich mir einzureden. Als ich endlich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, gehe ich rüber zum Zeitschriftenladen. Ich schnappe mir ein Blatt mit reißerischer Überschrift, vorn grinst mich ein Promi an, aber auf Seite drei finde ich, was ich suche. Ein nur leicht verfremdetes Foto, auf dem ich Ryan erkenne, das Alter stimmt auch und er ist tot, erschlagen, nachts auf offener Straße von mehreren Rechten totgeprügelt … 
    Ich gehe durch die Stadt wie ein Schlafwandler. Alles erscheint mir unreell. Die Menschen, die ganz normal ihren Beschäftigungen nachgehen. Die schwatzen und lachen. Und niemand scheint erschüttert darüber zu sein, dass in dieser Stadt ein Mord passiert ist. Und die, die vielleicht erschüttert darüber sind, reden nicht darüber, weil es sonst Realität annehmen würde; etwas, was es in unserer schönen, friedlichen kleinen Stadt nicht geben darf.
    Ich beobachte die Menschen, als wäre ich nicht anwesend, wie ein Alien, der irritiert das humanoide Verhalten studiert, es aber nicht verstehen kann.
    Der Bürgermeister sagt in einem Zeitungsinterview, dass diese Tat ein bedauerlicher Einzelfall war, eine Ausnahme. Und Ryan habe die Täter provoziert, das dürfe man auch nicht vergessen. Womit er sie provoziert haben soll, sagt der Bürgermeister nicht. Außerdem wird ein Polizeisprecher zitiert: '... werden alles daran setzen, die Täter zu fassen'. Was ja eigentlich nicht schwer sein kann in so einer kleinen Stadt.

5
    Abends im Bett überfällt mich plötzlich die Erinnerung an Ryan, meine Hände in seinem Haar, während er sich über mich beugte, die Handbewegung, mit der er sich eine Kippe anzündete, wie attraktiv er aussah, wenn er durch die Straßen ging … Und endlich kann ich weinen, ich weine um Ryan, und ich weine um dieses schwer zu fassende, das vielleicht zwischen uns hätte sein können und das ich nun nie wieder spüren werde, weil Ryan tot ist.
    Ich überlege, ob ich zu seiner Beerdigung gehen soll. Richtig zusammen waren wir nicht, offiziell schon gar nicht, niemand hat gewusst, dass wir einmal in der Woche miteinander geschlafen haben. Ich beschließe, nicht hinzugehen, weil sich jeder nur fragen würde, was ich da will. Wahrscheinlich habe ich Angst …
    Zwei Tage später gehe ich zu einer Veranstaltung der Kirchgemeinde, weil unser Chor dort singen soll. Anschließend bekomme ich mit, dass eine Gruppe von Leuten über Ryan redet. Ich stelle mich aus Neugier dazu, doch sie reden abfällig über ihn.  'Wie der rumlief, und arbeitsscheu auch, naja ist trotzdem schlimm,
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