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Daniel und Ismael

Daniel und Ismael

Titel: Daniel und Ismael
Autoren: J. Walther
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“nehmt doch noch ein Stück!”
    “Onkel Dieter, ein Schnäpschen?”
    “Wer möchte einen Weinbrand, na kommt schon.”
    Ich werde müde belächelt, weil ich bei einem Bier bleibe. Die Gespräche kommen in Gang, das heißt, die Männer unterhalten sich über Männerthemen, die Frauen schweigen. Kinder haben das unschätzbare Privileg, vom Tisch aufstehen und spielen gehen zu dürfen. Ich zähle nun leider nicht mehr zu den Kindern und muss sitzen bleiben. Ich habe die Fähigkeit entwickelt, mit einem Ohr zuzuhören, während mein halbes Gehirn an etwas anderes denkt. Das Wort an mich richtet sowieso fast nie jemand.
    Die Unterhaltung nimmt ihren üblichen, unvermeidlichen Verlauf. Jetzt sind sie bei Politik angekommen. Politische Bildung erfährt man hier überwiegend aus der Bild-Zeitung. Danach richten sich Themen und Stil. Steuererhöhung, unfähige Politiker (natürlich nicht die von der CDU), missbrauchte und ermordete Kinder. Ich kann genau den Zeitpunkt berechnen, an dem der ‘alle an die Wand stellen’- Spruch kommt. Dass der Kohlmeier seine drei Töchter missbraucht hat, weiß hier jeder, aber den hat noch keiner an die Wand gestellt.
    Irgendwann kommt der Punkt, an dem ich es nicht mehr aushalte, an dem alles Wegdenken nichts mehr nützt, diesmal noch vor dem Abendessen. Unter dem Vorwand, mal nach den Kindern zu sehen, verdrücke ich mich. Ich gehe hoch, hole meine Fotoausrüstung und verlasse leise das Haus.

 
    3
    Ich gehe die sonntäglich verwaiste Hauptstraße entlang. Vor dem Dorfgasthof steht ein Junge etwa in meinem Alter. Ich verlangsame meinen Schritt. Er trägt ein weißes Hemd und graue Hosen, dazu eine dunkelgraue Weste, ein ungewohnt feiner Anblick für unsere Dorfstraße. Der Anzug steht ihm gut, aber noch besser gefällt mir der Inhalt. Er blickt schüchtern zu mir rüber, dunkle Augen, dunkle Locken. Ich wünsche mir, dass er mich anlächelt, auf mich zukommt, mich anspricht. Aber ich weiß, wie dumm mein Wunsch in dieser Umgebung ist. Ich gehe weiter, drehe mich nicht um.
    Am Teich schlage ich einen schmalen Pfad durch das Schilf ein, am Wasser öffnet es sich zu einer kleinen Bucht. Das Abendlicht taucht die Bäume und das Wasser in warme Farben, es ist wunderschön hier und ganz ruhig. Ich genieße den Frieden, glücklich, mit mir und meinem Fotoapparat allein zu sein. Ich lege mich bäuchlings auf den Boden und überprüfe noch einmal meine Fotoausrüstung. Ich spare auf eine Digitalkamera, aber bis dahin tut es auch meine alte. Dann warte ich. Man muss nicht lange warten, nur ruhig sein. Dann kommen die winzigen Hubschrauber mit ihren glänzenden Flügeln angeflogen – Libellen. Ich habe schon unzählige Fotos von ihnen gemacht, aber ich jage dem einen, perfekten Bild hinterher.
    Da kommt ein Pärchen angeflogen, blaue Wasserjungfern. Sie umschwirren einander. Sie wollen doch nicht etwa … sie wollen. Ich visiere sie durch den Sucher an. Doch im entscheidenden Moment lenkt etwas meine Aufmerksamkeit ab. Ich verreiße die Aufnahme. Die Libellen fliegen weg, aufgeschreckt durch das leise Klicken. Der Junge von vorhin hat den Steg auf der anderen Seite des Teiches betreten. Er schaut über das Wasser, ohne mich zu bemerken. Dann knöpft er seine Weste auf und zieht sie aus. Wenn er mir schon die Libellen vertrieben hat, dann muss er eben als Ersatz herhalten. Mit einem 200-mm Teleobjektiv kann man ganz unbemerkt fotografieren. Jeder Knopf seines Hemdes, den er öffnet, ist ein Foto wert. Solche Motive findet man am Teich nicht alle Tage. Er legt das Hemd ebenso wie die Weste penibel zusammengefaltet auf den Holzsteg. Zwei Fotos später hat er auch seine Hose ausgezogen. Drunter trägt er eine Badehose, als hätte er geplant, schwimmen zu gehen. Er setzt sich an den Rand des Steges, lässt die Beine im Wasser baumeln und schaut versunken in das Wasser zu seine Füßen. Klick, Klick, macht meine Kamera, ein guter Fotograf spart nicht an der falschen Stelle mit Film. Der Junge lässt sich ins Wasser gleiten, am Steg ist es nur hüfthoch. Langsam schwimmt er auf mich zu, anscheinend hat er mich noch immer nicht bemerkt. Ausgerechnet in diesem Moment ist der Film zu Ende. Mit lautem Surren spult der Motor zurück. Der Junge ist mir jetzt schon ganz nahe, er bemerkt mich. Er schaut mich erschrocken an und zögert. “Hast du mich fotografiert?”
    “Ja”, vor lauter Peinlichkeit kann ich ihm nicht in die Augen sehen. Jetzt kommt er auch noch ans Ufer und setzt sich neben mich.
    Ich
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