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Daniel und Ismael

Daniel und Ismael

Titel: Daniel und Ismael
Autoren: J. Walther
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hochstehende Wurzel, die ich übersehen habe. Nun habe ich mir das Knie aufgeschlagen und muss schieben. Meine Stimmung sinkt. Und wenn wir uns wieder streiten? Ich beschließe, lieber nicht mehr mit den heiklen Themen anzufangen.
    Ismael wohnt in einem kleinen alten Siedlungshaus am Dorfrand. Er strahlt mich an, als er öffnet. Dann fällt sein Blick auf mein Knie und er erschrickt.
    “Ist halb so schlimm”, beruhige ich ihn.
    “Die Wunde muss aber gereinigt werden. Komm rein.” Er führt mich ins Badezimmer. In der Wanne sitzt ein kleines, vielleicht dreijähriges Mädchen.
    “Das ist meine Schwester. Sag Guten Abend Ruth, das ist Daniel.” Ruth schaut mich aus ihren blauen Augen groß an. Ich nehme ihr nicht übel, dass sie nichts sagt. Ich würde einem fremden Mann, der mich in der Badewanne überrascht, auch nicht Guten Abend sagen. Außer er ist attraktiv. Ismael öffnet den Medizinschrank und wühlt darin herum. “Hier muss irgendwo Jod sein.”
    “Ach man muss ja nicht gleich übertreiben, ein Pflaster tut es auch.”
    “Keine Widerrede, setz dich.” Folgsam nehme ich auf dem Hocker neben der Badewanne Platz. Ruth zeigt mir wortlos ihr Plastikschiffchen.
    “Das ist aber ein schönes Boot.”
    Ruth strahlt über das ganze Gesicht und drückt mir das Schiffchen in die Hand. Unterdessen hat sich Ismael vor mich gekniet und betupft meine Schrammen vorsichtig mit Jod. Obwohl es höllisch brennt, stelle ich mir vor, dass er über mein Bein streichelt, ich könnte mich jetzt vorbeugen und ihn küssen. Natürlich tue ich es nicht.
    Er verpasst meinem Knie ein großes Pflaster und lächelt mich von unten herauf an. “Ich muss noch Ruth ins Bett bringen.”
    Wir rubbeln die Kleine gemeinsam trocken und sie möchte unbedingt von mir die Treppe hoch getragen werden. Ihr Bettchen steht im Schlafzimmer der Eltern, es gibt weder ein Bild an der Wand noch einen Spiegel. Erst jetzt wird mir klar, was mich im Badezimmer irritiert hat - auch da gab es keinen einzigen Spiegel.
    Ruth kuschelt sich unter die Decke, bekommt noch ein Gute-Nacht-Küßchen von Ismael und schließt mit einem seligen Ausdruck auf dem Gesicht die Augen. Leise ziehen wir die Tür zu.
    “Hast du noch mehr Geschwister?”
    “Ja, Samuel ist zehn und David acht. Sie sind noch beim Volleyball.”
    “Und deine Eltern?”
    “Ehepaarkreis, das kann dauern.” Er führt mich in sein Zimmer unterm Dach. Der Raum ist winzig: ein Schrank, gegenüber ein Bett, ein Schreibtisch und in der Mitte ein Quadratmeter Platz. In die Schräge ist ein Dachfenster eingelassen, durch das man nur den Himmel sieht. Wir setzen uns gegenüber auf den Fußboden, ich lehne mich an den Schrank. Jeder freie Zentimeter des Raumes ist mit Büchern gefüllt. Über dem Bett auf Borden, über dem Schreibtisch, selbst auf dem Schrank stapeln sie sich bis unter die Decke, ein Bein des Bettes ist durch Bücher ersetzt. Das Zimmer ist so mit Büchern angefüllt, dass man das Gefühl hat, es wird nur von diesen zusammengehalten und würde sonst auseinander fallen.
    “Wollen wir Musik hören?”
    “Was hast du denn da?”
    Ismael kramt sage und schreibe Schallplatten hervor - alle mit klassischer Musik.
    “Hast du nichts anderes, was Modernes, Pop, Rock, irgendwas?”
    “Nein, das darf ich nicht hören. Das ist doch sowieso alles mit obszönen Texten.”
    Na toll, jetzt gehen die Grundsatzdiskussionen wieder los. “Und Klassik ist langweilig!”
    “Hast du denn schon mal welche gehört?”
    “Nur im Musikunterricht, aber du hast ja auch noch keine moderne Musik gehört.” Ich überlege kurz. “Was hältst du davon, wenn du mir jetzt Klassik vorspielst, und wenn du das nächste Mal bei mir bist, spiel ich dir coole Musik vor?”
    “Gut. Dann spiel ich dir meine Lieblingsplatte vor, Peer Gynt von Edward Grieg.”
    Ich bin unmöglich. Die ganze Zeit, während er da sitzt und andächtig zuhört, kann ich nur daran denken, dass ich ihn gern berühren würde. Ich möchte seine Hand halten, sein Knie streifen, meinen Arm um seine Schulter legen - ich bin wohl ein Kulturbanause. Obwohl die Musik zugegeben nicht ganz schlecht ist, düster und lebendig, wild und zart.
    Als der Tonarm des Plattenspielers mit einem Knacken hochspringt, sagt Ismael: “Du musst jetzt gehen, meine Eltern werden bald zurückkommen.”
    “Und wieso muss ich da gehen, hast du Angst, sie erwischen uns in einer verfänglichen Situation?” Aus Enttäuschung darüber, dass er mich abschieben will, vergesse
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