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Daniel und Ismael

Daniel und Ismael

Titel: Daniel und Ismael
Autoren: J. Walther
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aufgenommen habe, eine Portraitaufnahme, die anderen Fotos habe ich wohlweislich versteckt. Er schaut das Bild fasziniert an wie ein seltenes, geheimnisvolles Meerestier, wie ein Hologrammbild, das man hin und her bewegen muss.
    “Du kannst es behalten, wenn du möchtest, ich schenke es dir.”
    “Wirklich? Nein, das geht nicht, wenn das meine Eltern finden, nein.” Zögernd gibt er mir das Bild zurück. Er schaut wieder aus dem Fenster. “Meine Mutter, sie hat noch einige Fotos von mir als ich Kind war, kleine Schwarzweißfotos. Sie versteckt sie in einer Schachtel unter ihrer Wäsche. Ich glaube, sie hängt an diesen Bildern, aber alle von sich selbst hat sie weggeworfen.” Er dreht sich zu mir um. “Wir haben nicht mal einen Fotoapparat, damit man gar nicht erst in Versuchung kommt, jemanden aufzunehmen.”
    “Aber man kann doch so viel anderes fotografieren!” Ich bin fassungslos. “Pass mal auf.” Ich hole einen Stapel meiner Fotos und verteile sie auf dem Bett.
    Zwei Stunden später sind meine Bilder im ganzen Zimmer verteilt. Libellen, Bäume und Häuser ergießen sich vom Tisch über die Stühle und das Bett bis auf den Fußboden. Ismael hat sich an der Bilderflut berauscht, als hätte er in seinem Leben noch nie ein Foto gesehen. Er schaut sich jedes ganz genau an, lässt sich von mir erklären, wie und wo ich sie aufgenommen habe. Zum Schluss liegen wir beide erschöpft nebeneinander auf dem Fußboden und blicken an die Decke. Draußen dämmert es schon.
    Ich richte mich auf und betrachte ihn. Er hat die Augen geschlossen. Um den Hals trägt er ein braunes Lederband mit einem kleinen ovalen Anhänger aus gebranntem Ton, der in seiner Halskuhle ruht. Ohne zu überlegen, ohne Nachdenken zuzulassen, beuge ich mich vor und küsse ihn. Er öffnet die Augen.
    “Was soll das?”, fragt er leise.
    Ich küsse ihn noch einmal, meine Hand berührt seine Brust. Heftig stößt er mich weg.
    “Lass das! Wieso tust du so was?”
    “Ich, weil … ich find dich süß”, jetzt ist alles egal.
    “Weißt du nicht, dass das eine Sünde ist!”
    “Was? Jemanden süß finden?”
    “Du weißt genau, was!”, sein Ton wird immer schärfer.
    “Es ist, glaube ich, in den meisten Religionen eine Sünde, und in manchen Ländern steht darauf die Todesstrafe. Dass deine abartige Sekte es ablehnt, wundert mich gar nicht.”
    “Abartig? Du bist abartig.”
    Na fein, ich wollte mit ihm doch keine Grundsatzdiskussion über Homosexualität führen, ich wollte zum praktischen Teil übergehen. Mir ist zum Heulen zu Mute. “Deine Sekte verbietet auch eigene Fotos. Ist deswegen jeder gleich abartig, der ein Bild von sich besitzt?”
    “Das ist eine Regel, die nur für unseren Glauben gilt”, belehrt er mich.
    “Ach, aber andere gelten für die ganze Menschheit?”
    “Das ist doch ein Naturgesetz, das hat die Natur eben so eingerichtet.”
    “Wieso hat sie dann so viele Menschen so eingerichtet, dass sie nicht anders fühlen können?”
    “Es geht doch zu behandeln.”
    Jetzt werde ich wirklich wütend. “Wo haben sie dich mit all diesen Phrasen und Lügen vollgestopft? Glaubst du alles, was man dir erzählt?” Ich springe auf und gehe ans Fenster. Jetzt kommen mir auch noch die Tränen. Draußen ziehen schwarze Vögel kreuz und quer über den tiefen, wolkengrauen Himmel. Eine Weile herrscht Stille.
    “Weinst du etwa?”
    Was für eine bekloppte Frage. Ja, ich weine. Weil ich mir so sehr gewünscht habe, du würdest das Gleiche für mich empfinden, wie ich für dich. “Ich dachte, du magst mich auch ein bisschen”, sage ich leise.
    “Wollen wir die ganze Sache vergessen, wir können doch trotzdem Freunde sein.”
    “Okay.” Wie soll ich diese Sache vergessen, wie sollen wir nur Freunde sein?
    “Willst du mich mal besuchen kommen? Montag Abend? Da sind meine Eltern nicht da.” Sein Ton klingt versöhnlich. Ich sage zu.
    Nachdem er gegangen ist, setze ich mich auf das Fensterbrett und ziehe die Beine an. Draußen ist es dunkel geworden, kühl und dunkel.

 
    6
    Am Montag Abend radle ich in Richtung des Dorfes, in dem Ismael wohnt. Der Abend ist schön, die Gegend in ein mildes Licht getaucht. Links des Weges liegt ein Rapsfeld, das gelb leuchtet und intensiv duftet, manche würden auch sagen, es stinkt, aber ich finde es wunderbar. Ich muss an Ismael denken…
    Plötzlich finde ich mich auf dem Boden wieder. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich schon in den Nonnenwald gekommen bin. Über den Weg zieht sich eine
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