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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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antwortete er. » Der alte graue Rabbi …«
    … ist auch nicht mehr, was er mal war, ergänzte ich.
    »Ah.«
    Ich fühlte mich schlecht, weil ich ihn unterbrochen hatte. Weshalb war ich nur so ungeduldig?
    Wir gingen den Flur entlang zu seinem Büro. Da der Rebbe damals schon mit halbem Fuß im Ruhestand war, hatte er keine vorgeschriebenen Arbeitszeiten mehr. Er konnte auch zuhause bleiben, ohne dass sich jemand beklagt hätte.
    Aber Religion basiert auf Ritualen, und der Rebbe liebte das Ritual, zur Arbeit zu fahren. Er hatte diese Gemeinde seit 1948, als ihr nur ein paar Familien angehörten, bis heute, da sie über tausend Familien umfasste, betreut. Viele Gemeindemitglieder kannte er mittlerweile nicht mehr persönlich. Es gab auch weitere Rabbiner – einen leitenden Rabbiner und einen Hilfsrabbiner –, die alle anfallenden Aufgaben erledigten. Als der Rebbe diese Gemeinde übernommen hatte, war die Vorstellung von Hilfsrabbinern geradezu lachhaft. Damals besaß er als einziger die Schlüssel zum Haus, das er abends auch selbst abschloss.
    »Schauen Sie.«
    Er deutete auf einen Stapel Geschenke in einem Zimmer.
    Was ist das?, fragte ich.
    »Das Brautzimmer. Hier kleidet sich die Braut vor der Trauung an.«
    Er betrachtete die Geschenke und lächelte.
    »Schön, nicht?«
    Was denn?
    »Das Leben«, antwortete er.

Im Jahre 1967 …

    … sind die Häuser in unserer Wohngegend weihnachtlich geschmückt. Die Nachbarn sind überwiegend katholisch.
    Eines Morgens, als frischer Schnee liegt, stapfe ich mit einem Freund zur Schule. Wir tragen beide Anoraks und Gummistiefel. Wir kommen an einem kleinen einstöckigen Haus vorbei. Auf dem Rasen ist eine lebensgroße Weihnachtskrippe aufgebaut.
    Wir bleiben stehen und schauen uns die Figuren an. Die Weisen aus dem Morgenland. Die Tiere.
    Ist der da Jesus?, frage ich.
    »Welcher?«
    Der Aufrechte. Mit der Krone.
    »Ich glaub, das ist sein Vater.«
    Dann ist Jesus der andere?
    »Jesus ist das Baby.«
    Wo denn?
    »In der Krippe, du Dödel.«
    Wir verrenken uns den Hals. Jesus kann man vom Gehweg aus nicht sehen.
    »Ich geh mal gucken«, sagt mein Freund.
    Lass das lieber.
    »Wieso denn?«
    Kann Ärger geben.
    Ich weiß nicht, weshalb ich das sage. Offenbar spüre ich schon jetzt, dass es einen Unterschied gibt zwischen uns und den anderen. Wenn man Jude ist, soll man nicht über Jesus reden und ihn vielleicht auch nicht anschauen.
    »Ich geh trotzdem gucken«, sagt mein Freund.
    Ich folge ihm nervös. Der Schnee knirscht unter unseren Füßen. Aus der Nähe betrachtet sind die drei Weisen enttäuschend; man sieht, dass sie aus Gips gemacht sind und ihre Gesichter mit orangeroter Farbe bemalt wurden.
    »Das da ist er«, sagt mein Freund.
    Ich spähe über seine Schulter. Da, in der Krippe liegt das Jesuskind, in aufgemaltem Stroh. Ich schaudere, weil ich damit rechne, dass es jeden Moment die Augen aufschlagen und »Erwischt!« schreien wird.
    Komm schon, wir sind spät dran, sage ich und trete den Rückzug an.
    Mein Freund schnaubt verächtlich.
    »Angsthase«, sagt er.

Henrys Leben

    N achdem er gelernt hatte, an den Heiligen Vater zu glauben und den Sohn zu seinem persönlichen Erlöser erkoren hatte, kam Henry an einem Freitagabend in der True Deliverance Church in Harlem zum ersten Mal mit dem Heiligen Geist in Berührung. Es war ein Gottesdienst der Pfingstbewegung, und man wartete darauf, dass Jesus der Gemeinde seine Anwesenheit zeigt. Was auch bedeutet, dass die Gemeindemitglieder den Heiligen Geist empfangen können. Henry folgte den anderen zur Kanzel, und als er an der Reihe war, wurde er mit Olivenöl betupft, und man wies ihn an, sich auf eine Zeitung zu knien.
    »Rufe ihn an«, hörte er eine Stimme sagen.
    Und Henry rief den Herrn an. Er sagte »Jesus« und »Jesus« und dann immer schneller »Jesus, Jesus, Jesus«, bis die Silben sich verhedderten. Er schwankte vor und zurück und sprach den Namen des Herrn. Minuten verstrichen, und seine Knie begannen zu schmerzen.
    »Jesus, Jesus, Jesus, Jesus …«
    »Ruf ihn!«, schrien die anderen. »Ruf ihn!«
    » Jesus-Jesus-Jesus-Jesus-Jesus –«
    »Er naht! Ruf ihn weiter!«
    Henrys Herz hämmerte, und seine Waden krampften sich zusammen.
    » JesusJesusJesusJesusJesusJesusJesusJesusJesusJesus …«
    »Gleich! Gleich!«
    »Ruf ihn! Ruf ihn!«
    Henry schwitzte und würgte und hielt fünfzehn oder zwanzig Minuten durch. Irgendwann stammelte er so, dass man das Wort »Jesus« nicht mehr verstehen konnte; er gurgelte
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