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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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und lallte und murmelte und stöhnte, und Speichel tropfte auf die Zeitung. Seine Stimme, seine Zunge, seine Zähne und Lippen waren zu einem wild gewordenen Gebilde verschmolzen …
    »LeleslsjesleuesJesuslllajJelsusu .«
    »Jetzt! Er hat ihn empfangen!«
    Und so war es auch. Das glaubte Henry jedenfalls. Er atmete aus und rang nach Luft, erstickte fast und atmete tief ein und versuchte sich zu beruhigen. Er wischte sich das Kinn ab. Jemand knüllte die nasse Zeitung zusammen und trug sie weg.
    »Wie fühlst du dich?«, fragte ihn der Pastor. »Sag uns, wie du dich fühlst.«
    »Gut«, keuchte Henry.
    »Du fühlst dich gut, weil der Herr dir den Heiligen Geist geschickt hat?«
    Und Henry fühlte sich wirklich gut, wenn er auch nicht genau wusste, was er eigentlich getan hatte. Der Pastor lächelte und betete, dass der Herr Henry beschützen solle, und genau das wünschte sich Henry: ein Schutzgebet. Damit fühlte er sich sicher, wenn er in sein Viertel zurückkehrte.
    Henry empfing den Heiligen Geist an diesem Abend. Aber er war bald auch empfänglich für andere Substanzen. Er begann zu rauchen. Er probierte Alkohol. In der sechsten Klasse flog er von der Schule, weil er sich mit einem Mädchen geprügelt hatte. Bald darauf probierte er auch Marihuana.
    Als Jugendlicher hörte er einmal, wie seine Mutter mit Verwandten darüber sprach, dass Henry von all ihren Kindern den richtigen Charakter und das richtige Temperament hätte. »Dieser Bursche wird eines Tages Priester werden.«
    Henry hatte in sich hineingelacht. »Priester? Weißt du, wie viel von diesem Zeug ich rauche?«

Die tägliche Mühsal des Glaubens

    D as Büro des Rebbe in seiner Gemeinde sah nicht wesentlich anders aus als zuhause. Auf dem Schreibtisch herrschte ein Tohuwabohu aus Briefen, Unterlagen und Souvenirs. Auch hier merkte man seinen Humor. An der Tür hingen eine Segensliste, ein paar Cartoons und ein Witzparkschild mit der Aufschrift:
    Wer hier parkt, ist so gut wie tot
    Wir setzten uns. Ich räusperte mich. Meine Frage war einfach – sie bezog sich auf etwas, das man auf jeden Fall wissen musste für eine Trauerrede.
    Warum haben Sie sich für diese Branche entschieden?
    »Branche?«
    Die Religion. Hatten Sie eine Berufung?
    »Das kann ich nicht behaupten, nein.«
    Hat Gott sich Ihnen in irgendeiner Form gezeigt?
    »Ich glaube, Sie haben zu viele Bücher gelesen.«
    Na ja, die Bibel eben.
    Er grinste. »Darin komme ich nicht vor.«
    Ich wollte nicht respektlos sein. Ich hatte nur seit jeher das Gefühl, dass Rabbiner, Priester, Pastoren – eigentlich alle Geistlichen – auf einer eigenen Ebene zwischen dem Himmelreich und der Erde, dem Ort der Sterblichen, weilten. Gott dort oben. Wir hier unten. Sie dazwischen.
    Als ich noch jünger war, nahm ich den Rebbe genau so wahr. Er war nicht nur eine imposante Gestalt mit einem hervorragenden Ruf, sondern seine Predigten waren von so viel Leidenschaft und Humor geprägt, dass sie entweder Entrüstung oder aufgeregtes Raunen auslösten. Für Albert Lewis war die Predigt das, was für einen Star-Pitcher der Fastball bedeutet oder für Pavarotti die Arie. Deshalb, wegen seiner Leidenschaft, strömten die Leute in die Synagoge – das wussten wir, und ich glaube, in seinem tiefsten Inneren wusste er es auch. Es mag Gemeinden geben, wo die Leute sich klammheimlich verdrücken, bevor die Predigt beginnt. In unserem Gotteshaus war das jedoch anders: Die Leute schauten unruhig auf die Uhr und beeilten sich, wenn sie fürchteten, zur Botschaft des Rebbe zu spät zu kommen.
    Warum das so war? Ich glaube, weil er eine ganz eigene Form der Predigt entwickelt hatte, die ganz bewusst mit der traditionellen Form brach. Später erfuhr ich, dass er den während seiner Ausbildung erlernten Predigtaufbau – von A nach B, verbunden mit Deutungen und Zitaten – nach zwei oder drei Versuchen aufgab, weil er merkte, dass die Gemeindemitglieder ihm nicht zuhörten und sich langweilten. Das war unübersehbar.
    Von da an bezog er sich auf die einfachsten Gedanken aus dem ersten Buch Mose und setzte sie in Bezug zum Alltagsleben. Er stellte Fragen. Er regte Fragen an. Und so entstand ein neuer Predigtstil.
    Im Laufe der Jahre entwickelten sich diese Predigten zu leidenschaftlichen Auftritten. Der Rebbe zelebrierte seine Predigt wie ein Magier, baute Bibelzitate ebenso ein wie Sinatra-Songs, Vaudeville-Witze oder jiddische Ausdrücke und forderte das Publikum gelegentlich sogar zum Mitmachen auf (»ich bräuchte hier
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