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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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anzutreten, in der er fünfzig Jahre später noch immer seine Predigten hielt.
    Und da war wirklich kein Engel im Spiel?, fragte ich. Kein brennender Dornbusch? Kein stilles sanftes Sausen?
    »Ein Bus«, antwortete der Rebbe grinsend.
    Ich machte mir Notizen. Der charismatischste Mann, den ich kannte, hatte seine innere Kraft nur entfaltet, weil er einem Jungen dabei half, die seine zu entfalten.
    Als wir das Büro verließen, steckte ich meinen Notizblock weg. Aus unseren Gesprächen wusste ich nun, dass der Rebbe an Gott glaubte, regelmäßig zu Gott sprach, durch eine Art Zufall zum Mann Gottes geworden war und gut mit Kindern umgehen konnte. Das war immerhin ein Anfang.
    Wir gingen in die Vorhalle, und ich blickte mich in dem großen Gebäude um, das ich für gewöhnlich einmal im Jahr betrat.
    »Es ist schön, nach Hause zu kommen, nicht wahr?«
    Ich nickte. Aber dies war nicht mein Zuhause.
    Darf ich diese Geschichten erzählen, wenn … na ja … wenn ich die Trauerrede halte?, fragte ich.
    Der Rebbe strich sich über seinen Bart.
    »Wenn die Zeit gekommen ist«, antwortete er, »werden Sie ganz bestimmt wissen, was Sie sagen wollen.«

Henrys Leben

    A ls Henry vierzehn war, starb sein Vater nach langer Krankheit. Henry trug einen Anzug, als sie ins Begräbnisinstitut gingen; Willie Covington hatte darauf bestanden, dass seine Söhne einen Anzug besaßen, auch wenn das Geld dann für alles andere nicht mehr reichte.
    Die Familie trat an den offenen Sarg. Es war ein Schock für sie, als sie den Toten sahen. Willie war zwar sehr dunkelhäutig gewesen, aber der Bestatter hatte seine Haut rotbraun geschminkt. Henrys älteste Schwester begann zu weinen, wischte das Make-up ab und schrie: »So sieht mein Daddy nicht aus!« Henrys jüngster Bruder, der noch ein Baby war, versuchte in den Sarg zu krabbeln, und seine Mutter weinte.
    Henry sah stumm zu und sehnte sich danach, seinen Vater wieder bei sich zu haben.
    Bevor Henry begann, zu Jesus, Gott und anderen höheren Mächten zu beten, hatte er seinen Vater angebetet, einen ehemaligen Matratzenmacher aus North Carolina, der über eins neunzig groß war und viele Narben von Einschüssen auf der Brust hatte, über deren Geschichte er seinen Kindern nie etwas erzählte. Er war ein harter Bursche, der Kette rauchte und dem Alkohol zugetan war, aber wenn er abends betrunken nach Hause kam, war er oft liebevoller Stimmung. Dann rief er Henry zu sich und fragte: »Hast du deinen Daddy lieb?«
    »Ja«, antwortete Henry.
    »Na, dann gib Daddy ein Küsschen.«
    Willie war ein Mann voller Widersprüche, ein Mann, der immer die Wichtigkeit von Bildung betonte, aber selbst keinen richtigen Beruf erlernt hatte; ein Kleingauner und Kredithai, der gestohlene Waren im Haus versteckte. Als Henry in der sechsten Klasse zu rauchen begann, sagte sein Vater nur: »Mich brauchst du gar nicht erst um Kippen zu bitten.«
    Willie liebte seine Kinder und prüfte ihr Schulwissen, indem er ihnen Quizfragen stellte; für die Antwort auf eine leichte Frage gab es einen Dollar, für eine schwierige Matheaufgabe zehn Dollar. Und Henry liebte es, wenn sein Vater sang, vor allem die alten Spirituals wie »It’s Cool Down Here by the River Jordan«.
    Doch irgendwann sang er nicht mehr, sondern hustete nur noch und rang nach Luft. Er hatte ein Lungenemphysem und Gehirntuberkulose und war das letzte Jahr seines Lebens bettlägerig. Henry kochte regelmäßig für ihn und brachte ihm das Essen ans Bett, obwohl sein Vater Blut hustete und kaum noch etwas zu sich nahm.
    Eines Abends schaute sein Vater ihn traurig an und krächzte: »Falls dir je die Kippen ausgehen, Sohn, kannst du welche von meinen haben.«
    Ein paar Wochen später war er tot.
    Beim Begräbnis sprach der Baptistenprediger von der Seele und von Jesus, aber Henry konnte nichts damit anfangen. Er glaubte, dass sein Vater eines Tages einfach wieder vor der Tür stehen und seine Lieblingslieder singen würde.
    Monate verstrichen, doch sein Vater kam nicht wieder.
    Und da Henry, der Sohn des Gauners, nun seinen einzigen Helden verloren hatte, traf er eine Entscheidung: Von nun an würde er sich alles nehmen, was er haben wollte.

MAI
Ritual

    D er Frühling neigte sich dem Ende entgegen, es war schon beinahe Sommer, und die Morgensonne schien durchs Küchenfenster. Ich traf mich nun zum dritten Mal mit dem Rebbe. Bevor wir loslegten, goss er mir ein Glas Wasser ein.
    »Eis?«, fragte er.
    Brauche ich nicht, danke, antwortete ich.
    »Braucht er
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