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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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– was bedeutet das dann für deren Leben? Und für mein eigenes? Durch diese Rituale, die wir von Generation zu Generation weitergeben, bleiben wir …«
    Er öffnete die Hände, suchte nach dem passenden Wort.
    Verbunden?, schlug ich vor.
    »Ah.« Er lächelte. »Ja. Verbunden.«

Das Ende des Frühlings

    A ls der Rebbe mich an diesem Tag zur Tür geleitete, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Früher hatte auch ich Rituale gehabt – sie aber seit Jahrzehnten missachtet. In meinem jetzigen Leben tat ich überhaupt nichts mehr, was mich mit meiner Religion verband. Gewiss, ich hatte ein spannendes Leben. Ich reiste viel. Ich lernte interessante Menschen kennen. Aber meine täglichen Handlungen – Fitnesstraining, die Nachrichten checken, meine E-Mails lesen – waren zweckorientiert und an keine Tradition geknüpft. Womit stand ich in Verbindung? Mit meiner Lieblingstalkshow? Der Morgenzeitung? Meine Arbeit verlangte Flexibilität. Rituale zelebrieren ist das Gegenteil.
    Außerdem empfand ich religiöse Bräuche zwar als sympathisch, aber genauso veraltet wie Schreibmaschineschreiben mit Durchschlagpapier. Offen gestanden bestand mein einziges religiöses Ritual nunmehr in meinen Gesprächen mit dem Rebbe. Ich hatte ihn bei der Arbeit und zuhause erlebt, lachend und entspannt. Ich hatte ihn in Bermudashorts gesehen.
    Und ich hatte den Rebbe in diesem Frühling häufiger getroffen als sonst in drei Jahren und verstand eigentlich immer noch nicht richtig, weshalb. Als Gemeindemitglied musste ich doch für ihn eine echte Enttäuschung sein. Warum hatte er ausgerechnet mich ausgesucht, um seinen Tod zu begleiten, wenn ich vermutlich schon zu seinen Lebzeiten eine Enttäuschung für ihn war?
    Wir kamen zur Tür.
    Eine Frage noch, sagte ich.
    »Eine Frage noch«, trällerte er, »aber sicher doch …«
    Wie schaffen Sie es, nicht zum Zyniker zu werden?
    Er sah mich an.
    »In meiner Tätigkeit ist kein Raum für Zynismus.«
    Aber die Menschen sind doch so unzuverlässig. Religion ist ihnen gleichgültig geworden, und manchmal schenken sie sogar dem Glauben selbst und Ihnen keine Beachtung mehr. Möchten Sie da nicht manchmal einfach aufgeben?
    Er betrachtete mich mitfühlend. Vielleicht spürte er, dass ich eigentlich eine ganz andere Frage stellte, die lautete: Warum haben Sie ausgerechnet mich ausgesucht ?
    »Ich möchte Ihre Frage mit einer Geschichte beantworten«, sagte er. »Stellen wir uns einen Vertreter vor. Er klopft an eine Tür. Der Mann, der ihm öffnet, sagt: ›Ich brauche heute nichts.‹
    Am nächsten Tag steht der Vertreter wieder da.
    ›Verschwinden Sie‹, bekommt er zu hören.
    Doch am darauffolgenden Tag steht er erneut vor der Tür.
    Der Mann schreit: ›Sie schon wieder! Ich habe Sie gewarnt!‹ Er ist so wütend, dass er dem Vertreter ins Gesicht spuckt.
    Der Vertreter lächelt, wischte sich den Speichel mit einem Taschentuch ab, blickt zum Himmel auf und sagt: ›Es scheint zu regnen.‹
    Das ist Glauben, Mitch. Wenn sie dir ins Gesicht spucken, sprichst du vom Regen. Aber du stehst trotzdem am nächsten Tag wieder da.«
    Er lächelte.
    »Und Sie kommen doch auch wieder, nicht wahr? Wenn auch vielleicht nicht gleich morgen …«
    Er breitete die Arme aus, als erwarte er, dass ihm jemand ein Paket hineinlege. Und zum ersten Mal in meinem Leben lief ich nicht vor dem Rebbe davon.
    Sondern ich umarmte ihn.
    Ein bisschen hastig und ungeschickt zwar – aber ich spürte die spitzen Knochen in seinem Rücken und seinen Bart an meiner Wange. Und bei dieser kurzen Umarmung schrumpfte in meiner Wahrnehmung ein übergroßer Mann Gottes auf normale menschliche Größe.
    Im Rückblick glaube ich, dass sich die Aufgabe, eine Trauerrede zu verfassen, in diesem Moment in etwas anderes verwandelte.

SOMMER
    HERBST
    WINTER
    FRÜHJAHR

Im Jahre 1971 …

    … werde ich dreizehn. Der große Tag. Ich beuge mich mit einem silbernen Torazeiger, dessen Spitze die Form einer Hand hat, über die heiligen Schriftrollen. Ich lese den alten Text, singe die Worte. Meine Stimme überschlägt sich immer wieder, weil ich im Stimmbruch bin.
    In der vordersten Reihe sitzen meine Eltern, meine Geschwister und meine Großeltern, hinter ihnen Verwandte, Freunde, meine Schulkameraden.
    Konzentrier dich , sage ich mir. Nicht dass du es verpatzt .
    Es klappt ganz gut. Als ich fertig bin, drücken mir die Männer, die bei mir stehen, die schweißnasse Hand und murmeln » Jischar Koach « – herzlichen Glückwunsch –, und ich trete
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