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Odd Thomas 4: Meer der Finsternis

Titel: Odd Thomas 4: Meer der Finsternis
Autoren: Dean R. Koontz
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    Es ist nur das Leben. Irgendwie bringen wir es alle hinter uns.
    Nicht alle von uns beenden jedoch die Reise in ein und demselben Zustand. Unterwegs verlieren manche bei Unfällen oder gewaltsamen Auseinandersetzungen ihre Beine oder Augen, während andere durch die Jahre gleiten, ohne sich weitere Sorgen machen zu müssen als die, dass an manchen Tagen ihre Frisur nicht richtig sitzt.
    Ich besaß noch immer beide Beine und beide Augen, und selbst mein Haar sah akzeptabel aus, als ich an jenem Mittwochmorgen Ende Januar aus dem Bett stieg. Wäre ich sechzehn Stunden nach diesem Augenblick wieder schlafen gegangen, ohne mehr verloren zu haben als alle meine Haare, würde ich den Tag als wahren Triumph bezeichnen. Selbst wenn ich anschließend ein paar Zähne weniger gehabt hätte, wäre es ein Triumph gewesen.
    Als ich in meinem Zimmer die Jalousien hochzog, war es windstill und der wolkenverhangene Himmel grau und schwer, doch er ging eindeutig mit einer Veränderung schwanger.
    Über Nacht war laut den Radionachrichten in Ohio ein Passagierflugzeug abgestürzt, wobei Hunderte zu Tode gekommen waren. Überlebt hatte nur ein zehn Monate altes Kind. Man hatte es unversehrt in seinem übel zugerichteten
Sitz gefunden, der aufrecht inmitten von verkohlten und verbogenen Trümmern stand.
    Unter dem erwartungsvollen Himmel schwappten den ganzen Morgen über flache, träge Wellen an den Strand. Der Pazifik war grau und von pechschwarzen Schatten erfüllt, als schwämmen knapp unterhalb der Oberfläche fantastisch geformte Meeresungeheuer dahin.
    In der Nacht war ich zweimal aus einem Traum erwacht, in dem eine rote Flut heranrollte, während das Meer in einem schrecklichen Licht pulsierte.
    Was Alpträume angeht, habt ihr bestimmt schon schlimmere gehabt. Das Problem besteht darin, dass sich einige meiner Träume bewahrheitet haben und dabei Menschen zu Tode gekommen sind.
    Während ich für meinen Arbeitgeber das Frühstück zubereitete, kam im Küchenradio die Nachricht, die Terroristen, die am Vortag im Mittelmeer ein Kreuzfahrtschiff gekapert hätten, seien nun damit beschäftigt, die Passagiere zu enthaupten.
    Ich habe schon vor Jahren damit aufgehört, mir Nachrichten im Fernsehen anzuschauen. Worte und das Wissen, das sie vermitteln, kann ich ertragen, aber die Bilder machen mich fertig.
    Weil Hutch an Schlaflosigkeit litt und erst in der Morgendämmerung zu Bett ging, ließ er sich sein Frühstück mittags bringen. Er bezahlte mich gut und war ein freundlicher Mensch, weshalb ich meine Arbeit an seinen Lebensrhythmus anpasste, ohne mich zu beklagen.
    Seine Mahlzeiten nahm Hutch im Esszimmer ein, wo die Vorhänge immer zugezogen waren. Dazwischen blieb kein einziger heller Streifen sichtbar.
    Beim Essen sah er sich oft einen Film an und blieb noch ein
wenig bei einer Tasse Kaffee sitzen, bis der Abspann kam. Auch an jenem Tag hatte er keinen Nachrichtensender eingeschaltet, sondern sah sich Carole Lombard und John Barrymore in Napoleon vom Broadway an.
    Angesichts seiner achtundachtzig Jahre war Hutch noch in der Zeit des Stummfilms geboren, als Namen wie Lillian Gish und Rudolph Valentino am Kinohimmel glänzten. Auch er war später ein erfolgreicher Schauspieler gewesen. Nicht zuletzt deshalb dachte er weniger in Worten als in Bildern und hielt sich gern in einer Fantasiewelt auf.
    Neben seinem Teller stand eine Flasche mit Desinfektionsgel. Damit reinigte er sich nicht nur vor und nach dem Essen ausgiebig die Hände, sondern auch mindestens zweimal im Lauf einer Mahlzeit.
    Wie die meisten Amerikaner in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts fürchtete Hutch sich vor allem - außer vor dem, was er hätte fürchten sollen.
    Wenn den Machern der Fernsehnachrichten die Geschichten über versoffene, drogensüchtige, mordlüsterne oder anderweitig durchgedrehte Prominente ausgingen (was etwa zweimal pro Jahr vorkam), dann füllten sie die kurze Lücke gelegentlich mit einem Sensationsbericht über gewisse fleischfressende Bakterien.
    Infolgedessen hatte Hutch Angst davor, sich diese heißhungrigen Erreger zuzuziehen. Von Zeit zu Zeit hockte er beim Lampenschein in seinem Arbeitszimmer wie eine jener verdrießlichen Gestalten, die die Geschichten von Edgar Allan Poe bevölkern, und grübelte über sein Schicksal nach, über die Anfälligkeit seines Fleisches und den unersättlichen Appetit seiner mikroskopischen Widersacher.
    Vor allem fürchtete er sich davor, dass seine Nase aufgefressen werden könnte.

    In
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