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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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unruhig, weil er Angst hatte, im Schlaf gebissen zu werden.
    Henrys Mutter arbeitete als Hausmädchen – überwiegend für jüdische Familien –, und sein Vater war ein Kleinganove, ein stattlicher kraftvoller Mann, der zuhause gerne sang. Er hatte eine schmelzende Stimme, die an Otis Redding erinnerte, aber wenn er sich am Freitagabend rasierte und dazu »Big Legged Woman« sang, schäumte Henrys Mutter vor Wut, weil sie wusste, wo er danach hinging. Es gab häufig laute und gewalttätige Streitereien.
    Als Henry fünf Jahre alt war, stritten sich seine Eltern eines Abends schreiend und fluchend vor dem Haus. Plötzlich brachte Wilma ein Gewehr, Kaliber 22, zum Vorschein und drohte, auf ihren Mann zu schießen. Als sie abziehen wollte, warf sich ein anderer Mann dazwischen und schrie: »Nein, tun Sie’s nicht!«
    Die Kugel traf seinen Arm.
    Wilma Covington wurde für zwei Jahre nach Bedford Hills ins Hochsicherheitsgefängnis für Frauen geschickt. Henry und sein Vater besuchten sie dort jedes Wochenende. Unterhalten konnten sie sich nur durch eine Glasscheibe.
    »Vermisst du mich?«, fragte Wilma immer.
    »Ja, Mama«, antwortete Henry dann.
    In diesen Jahren war er so mager, dass sie ihm ein Mittel zum Zunehmen mit Karamellgeschmack verabreichten, damit er wenigstens ein bisschen Fleisch auf die Knochen bekam. Sonntags ging er in eine Baptistenkirche in der Nähe, weil der Pastor den Kindern nach dem Gottesdienst bei sich zuhause Eiscreme servierte. Das gefiel Henry gut.
    Auf diese Weise kam er in Kontakt mit dem Christentum. Der Pastor sprach von Jesus und dem heiligen Vater. Von Jesus konnte Henry sich Abbildungen ansehen, aber von Gott musste er sich selbst ein Bild machen. Er stellte sich eine riesige dunkle Wolke mit Augen vor, die nicht menschlich waren. Und mit einer Krone.
    Nachts betete Henry zu der Wolke und bat sie, die Ratten von ihm fernzuhalten.

Die Gottesakte

    A ls der Rebbe mich in sein kleines Büro führte, konnte ich das Gespräch unmöglich mit der Frage nach der Trauerrede beginnen. Das wäre mir vorgekommen wie wenn ein Patient sich gleich beim ersten Arzttermin nackt ausziehen muss. Man beginnt eine Unterhaltung einfach nicht mit den Worten: »Und, was soll ich nun über Sie sagen, wenn Sie gestorben sind?«
    Ich versuchte es also zunächst mit Konversation. Wir sprachen übers Wetter und meine alte Wohngegend, und ich bekam eine kleine Führung durch das Büro. Die Regale barsten beinahe vor Büchern und Aktenordnern, und der Schreibtisch war mit Briefen und Notizzetteln übersät. Überall standen offene Kartons herum, in denen der Rebbe etwas sammelte oder umräumte.
    »Kommt mir vor, als hätte ich viel von meinem Leben vergessen«, sagte er.
    Man bräuchte auch ein zweites Leben, um das alles hier lesen zu können.
    »Ah«, lachte er. »Klug beobachtet!«
    Es war ein merkwürdiges Gefühl, den Rebbe zum Lachen zu bringen; ich fühlte mich geehrt, kam mir gleichzeitig aber auch respektlos vor. Denn aus der Nähe betrachtet, war er nicht mehr der Mann, der mir in meiner Kindheit so imposant erschienen war, wenn ich während des Gottesdienstes zu ihm aufblickte.
    Hier, auf Augenhöhe, kam er mir viel kleiner und schmaler vor. Er wirkte gebückt, und seine markanten Wangen waren faltig geworden. Wenn er lächelte, strahlte er zwar noch immer fröhliche Zuversicht aus, und sein Blick war so weise und versonnen wie eh und je, aber jetzt bewegte er sich so behutsam wie ein Mensch, der weiß, dass er jeden Moment stürzen könnte. Seine Sterblichkeit war spürbar geworden, und ich hätte ihn gerne gefragt: Wie viel Zeit bleibt Ihnen noch?
    Doch stattdessen erkundigte ich mich nach seinen Aktenordnern.
    »Ach, die sind voller Geschichten, Ideen für Predigten«, sagte er. »Ich sammle Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften.«
    Ein Aktenordner trug die Aufschrift »Alter«. Auf einem sehr dicken stand »Gott«.
    Sie haben eine Akte über Gott?, fragte ich.
    »Holen Sie die doch mal runter, bitte.«
    Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, zog den Aktenordner behutsam zwischen den anderen hervor und legte ihn auf ein Regal weiter unten.
    »Näher, mein Gott, zu Dir«, sang der Rebbe.
    Schließlich ließen wir uns nieder, und ich klappte meinen Block auf. Der Rebbe nickte und blinzelte, als habe er verstanden, dass nun der formelle Teil begann. Er saß auf einem Bürostuhl, mit dem er zu seinem Schreibtisch oder zu seinem Aktenschrank rollen konnte. Ich saß in einem breiten grünen
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