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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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Rebbe bislang immer nur im Anzug oder im Talar gesehen. So nannten wir ihn als Jugendliche: »der Rebbe«. Als sei er eine Art Superheld. Der Hulk. Der Rebbe. Damals war er, wie gesagt, eine imposante Gestalt: ein großer Mann mit ernster Miene, markanten Wangenknochen, buschigen Augenbrauen und dichtem dunklem Haar.
    »Hallihallo, junger Mann«, begrüßte er mich nun fröhlich.
    Ähm, hallo, sagte ich und bemühte mich, ihn nicht anzuglotzen.
    »Nur herein«, trällerte er. » Enn-treez !«
    In diesem Outfit wirkte der Rebbe ungewohnt schmächtig und gebrechlich auf mich. Seine Oberarme, die ich zum ersten Mal zu Gesicht bekam, waren dünn und schlaff und mit Altersflecken übersät. Die Brille mit den dicken Gläsern war ihm auf die Nase gerutscht, und er blinzelte, als könne er mich nur schlecht sehen. Das gescheitelte Haar war weißgrau, und der melierte Spitzbart zwar sorgfältig gestutzt, aber mir fielen trotzdem ein paar Stellen auf, die er beim Rasieren übersehen hatte. Als der Rebbe mir vorausging in sein Büro, starrte ich auf seine dürren Beine und machte möglichst kleine Schritte, um ihn nicht versehentlich anzurempeln.
    Wie kann ich beschreiben, wie mir an jenem Tag zumute war? Ich habe inzwischen beim Propheten Jesaja eine Passage gefunden, in der Gott spricht:
    »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken,
    und eure Wege sind nicht meine Wege,
    sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde
    so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.«
    Ich hatte erwartet, dass ich mich genau so fühlen würde: klein und unwürdig. Ich meine, ich hatte es hier mit einem Gesandten Gottes zu tun, zu dem man schließlich aufblicken soll, nicht wahr?
    Doch stattdessen trippelte ich einem alten Mann hinterher, der kurze Hosen und Sandalen mit Socken trug. Und dachte unwillkürlich, dass er ziemlich albern aussah.

Ein bisschen Geschichte

    I ch sollte Ihnen erzählen, warum ich mich vor der Trauerrede drücken wollte und welche Einstellung ich zur Religion hatte, als diese ganze Geschichte begann. Ich hatte gar keine, um ehrlich zu sein. Kennen Sie die gefallenen Engel, die im Christentum vorkommen? Oder den Dschinn Iblis, der im Koran aus dem Himmel verbannt wird, weil er sich weigert, sich vor Gott zu verneigen?
    Hier auf der Erde sieht es weniger dramatisch aus, wenn man vom Glauben abfällt. Man gerät einfach ins Trudeln und wandert davon.
    Ich weiß, wovon ich rede, denn genau so war es bei mir.
    Oh, ich hätte durchaus fromm werden können. Gelegenheit dazu hatte ich genug. Ich wuchs in einer mittelständischen Vorstadt in New Jersey auf und wurde schon als Junge von meinen Eltern für die Religionsschule beim Rebbe angemeldet, die ich dreimal die Woche besuchte. Das hätte ich für mich nutzen können. Stattdessen betrug ich mich, als würde ich gegen meinen Willen dorthin geschleppt wie ein Häftling. Wenn wir (mit den wenigen anderen jüdischen Kindern aus unserer Wohngegend) im Kombi losfuhren, starrte ich sehnsüchtig aus dem Fenster auf meine christlichen Freunde, die auf der Straße Fußball spielten. Warum ausgerechnet ich ?, fragte ich mich. Während des Unterrichts verteilten die Lehrer Salzstangen, und ich leckte gedankenverloren das Salz ab und träumte vor mich hin, bis die Glocke ertönte und mich befreite.
    Auf Drängen meiner Eltern hin war ich bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr nicht nur ausreichend auf meine Bar Mizwa vorbereitet, sondern konnte auch die traditionellen Tonfolgen aus der Tora lesen, den heiligen Schriftrollen mit den ersten fünf Büchern des Alten Testaments. Ich las regelmäßig jeden Samstagmorgen. In meinem einzigen Anzug (der natürlich dunkelblau war) stand ich auf einer Holzkiste, damit ich groß genug war, um über die Rollen schauen zu können. Der Rebbe stand ein paar Schritte entfernt und beobachtete meinen Vortrag. Danach hätte ich mit ihm sprechen und den Bibeltext erörtern können. Doch das tat ich nicht. Ich gab ihm lediglich die Hand, stieg zu meinem Vater ins Auto und ließ mich heimfahren.
    Als höhere Schule besuchte ich – wiederum auf Wunsch meiner Eltern – eine Privatschule, auf der die eine Tageshälfte dem säkularen und die andere dem religiösen Unterricht vorbehalten war. Ich lernte also nicht nur Mathe und europäische Geschichte, sondern las auch das zweite und das fünfte Buch Mose, das erste und zweite Buch der Könige und die Sprüche Salomos, und zwar alles in der Originalsprache. Ich schrieb
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