Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Damals warst du still

Titel: Damals warst du still
Autoren: Christa von Bernuth
Vom Netzwerk:
Stöhnen. »Toll!«
    »Ich kann auch nichts dafür. Das ist mein...«
    »Ach hör doch auf.«
    »Ich kann nichts dafür, verstehst du? Wenn man einen Toten findet, kann man nicht einfach...«
    »Debbie schreit. Ich geh jetzt zu ihr.« Sie brach abrupt die Verbindung ab, und David stand regungslos wie ein Idiot mit dem stummen Telefon am Ohr vor einem dunklen, leeren Abrissgebäude, an dem das Unkraut schon nagte. Mit einem toten Jungen zu seinen Füßen, der höchstens sechzehn, siebzehn war und in diesem Alter nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als sein Leben zu ruinieren. Als er die Polizeisirenen hörte, erwachte er aus seiner Starre. Langsam schob er das Handy in die Hosentasche zurück. In diesem Moment bogen zwei Wagen mit Geheul und Blaulicht auf das Gelände, das plötzlich taghell zu werden schien. Sie hielten direkt auf David zu, der die rechte Hand gehoben hatte und sich in dieser Pose ein wenig lächerlich vorkam. Insgesamt vier Männer stiegen aus, zwei Polizisten in Uniform und zwei in Zivilkleidung. David kannte einen von ihnen, es war ein Gerichtsmediziner aus dem Institut für Rechtsmedizin. Er begrüßte ihn mit einem kurzen Winken.
    »Mergentheimer, Dezernat für Todesermittlung«, sagte der andere, ein dünner Mann mit Glatze und einem schütteren blonden Schnauzbärtchen. David schüttelte die ausgestreckte Hand. »Gerulaitis, Drogenfahndung, Dezernat 9. Sind Sie neu?«
    »Seit einer Woche dabei. Also, Herr …
    »Gerulaitis.«
    »Äh, ja. Was haben wir denn hier?«
    Idiot, dachte David, und sagte: »Einen toten Jungen, wie man sieht. Drogen nehme ich an.«
    »Wie haben Sie ihn gefunden?«
    »Zufällig. Ich war bei einem Einsatz und bin nach Hause gefahren. Der Club liegt auf dem Weg, und...«
    Aber Mergentheimer hörte ihm nicht mehr zu. Gemeinsam mit dem Gerichtsmediziner begab er sich zu der Leiche hinter David. Der Gerichtsmediziner beugte sich nach unten. »Absperren müssen wir ja wohl nichts«, sagte Mergentheimer zu niemandem bestimmten. »Kein Mensch da. Was ist das für ein Club?«
    David trat neben ihn, weil er annahm, angesprochen zu sein. »House, Hiphop, viel black music . Viele harte Drogen. Heute scheint Ruhetag zu sein, normalerweise ist hier die Hölle los.«
    »Tot«, sagte der Gerichtsmediziner, als habe daran noch irgendein Zweifel bestanden. Er hob das T-Shirt des Jungen an und zog es vorsichtig nach oben, um Rücken und Bauch zu untersuchen. »Moment mal«, sagte er. »Da ist doch was. Am Rücken. Ich fühl da was. Da ist irgendwas, eine Wunde oder so.«
    David und Mergentheimer kamen näher. »Kann ich ihn auf den Bauch drehen?«, fragte der Gerichtsmediziner.
    »Warten Sie damit«, sagte Mergentheimer. »Vielleicht ist das hier ein Tatort, dann muss hier fotografiert werden und...«
    »Dann kommen Sie mal runter und halten Sie meine Taschenlampe.«
    Mergentheimer und David knieten sich neben den Gerichtsmediziner, Mergentheimer nahm gehorsam dessen Lampe und richtete sie auf den freien Rücken des Jungen. David fuhr zurück. Jemand hatte in die glatte, leicht gebräunte Haut ein blutiges Wort geritzt. Man konnte es deutlich lesen, denn jeder Buchstabe war mindestens fünf Zentimeter hoch. Es lautete WARST.
    »Verdammt«, sagte Mergentheimer leise. Sein Schnurrbart zitterte. »Das kann er sich ja wohl kaum selber beigebracht haben.«
    »Das ist noch was«, sagte der Gerichtsmediziner tonlos.
    »Wo?«
    »Leuchten Sie mal hierher. Auf die rechte Hand. Der hat was in der Hand. Etwas... hm... Fleischiges.«
    »Scheiße«, sagte David, als die Hand des Toten im Lichtkreis auftauchte. »Das ist ja so was wie...«
    »Jemand hat ihm die Zunge rausgeschnitten«, sagte der Gerichtsmediziner. »Jedenfalls nehme ich das mal an.« Er versuchte, den Mund der Leiche zu öffnen, aber es ging nicht; der Kiefer war fest zusammengepresst. Die Hand der Leiche war um ein blutiges Etwas gekrampft, das etwa die Größe einer Maus hatte. »Das ist eine Zunge mit Zungenwurzel.«
    »Wieso?«, fragte Mergentheimer mit schwacher Stimme, als sei ihm übel.
    »Das ist Ihr Bier«, sagte der Gerichtsmediziner. »Ich stell hier bloß die Fakten fest. Der hat eine Zunge in der Hand. Das Fleischgekröse, was da rausschaut, ist die Zungenwurzel. Ob das seine eigene Zunge ist, sehen wir in der Pathologie, wenn die Leichenstarre vorbei ist.«
    David setzte sich auf den Boden und ließ den Kopf zwischen den Beinen hängen. Er versuchte, alles von sich wegzuschieben: seine Erschöpfung, seine Übelkeit, seinen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher