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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still
Autoren: Christa von Bernuth
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körperlichen Anstrengung verbunden.
    Das war das Schlimmste: dieses heftige unregelmäßige Keuchen. Die Luft um ihn herum schien zu dampfen. Sie hätte schwören können, dass sein Körper fieberheiß war, aber sie war nicht im Stande, ihn zu berühren.
    Sie hob im ersten Impuls die Hand, um ihm eine Ohrfeige zu geben – ihre übliche Art, Probleme aus der Welt zu schaffen. Aber irgendetwas hielt sie davon ab. Angst vielleicht. Sie ging rückwärts durch das hohe, nasse Gras. Ihre Gedanken schlugen seltsame Volten und schienen gleichzeitig stillzustehen. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen für diese widerliche, ekelhafte …
    Warum tat sie es dann nicht? Warum lief sie davon?
    Sie versuchte, sich zu beruhigen.
    Vielleicht taten so was alle Kinder. Hatte sie selbst nicht auch Insekten getötet und seziert?
    Ja, schon. Aber anders. Nicht so – nicht mit dieser stummen, fokussierten Besessenheit.
    Als der Junge außer Sichtweite war, drehte sie sich um und fing an zu laufen. Nicht ins Haus, sondern trotz der Kälte und des Regens aus dem Garten hinaus, die ungeteerte Straße entlang, an den Grundstücken der Nachbarn vorbei, bis sie auf den einzigen Gasthof des Ortes stieß. Er hieß »Zur Wende«, weil die Straße hier einen scharfen Knick vollzog. Sie fühlte sich nicht gut, das musste als Begründung für den reichlich frühen Besuch reichen. Sie versuchte die Tür aufzustoßen, aber sie hatte vergessen, dass »Zur Wende« am Sonntagvormittag geschlossen hatte.
    Kein Schnaps, nirgends. Ihr Mann hielt nichts davon, sich tagsüber einen zu genehmigen, deswegen konnte sie jetzt nicht einmal an ihre Hausbar heran. Langsam ging sie wieder nach Hause, wo sie nicht hinwollte, aber es gab ja keinen anderen Platz, wo sie hinkonnte. Niemand wollte hier sein. Nicht sie, nicht ihr Mann, nicht ihre Kinder, nicht die Nachbarn, niemand. Aber der Ort, in dem sie lebten, befand sich auf einer Lagune, deshalb gab es nur einen Eingang, keinen Ausgang. So dachte sie manchmal, obwohl sie natürlich wusste, dass das komplett absurd war (jeden Morgen fuhr sie schließlich ungehindert heraus aus dem Ort zu ihrem Arbeitsplatz, einer Klinik in der benachbarten Kreisstadt).
    Nur ein Eingang, kein Ausgang. Wen es hierher verschlug, kam nie wieder weg. Sie war dieses Gefühl nie losgeworden.
    Seit dem Tag X behielt sie ihren Sohn im Auge – und er sie. Sie unternahm zwar im Grunde gar nichts, nicht einmal die fällige Tracht Prügel fand statt, aber er wusste trotzdem, was los war. Er hatte diese Begabung, Stimmungen zu erkennen, bevor über sie gesprochen wurde. Auch dann, wenn niemals über sie gesprochen wurde. Manchmal war er sich selbst unheimlich. Er war kein normaler Junge. In ihm schien eine zweite Persönlichkeit zu existieren, die vollkommen unabhängig von seiner ersten funktionierte. Diesen unsichtbaren Schatten zu nähren war seine Aufgabe – anders hätte er es nicht erklären können, wenn ihn jemand gefragt hätte.
    Aber das tat niemand, und schon gar nicht seine Mutter. Sie sah ihn nur immer wieder merkwürdig an und nahm ihm bei passender Gelegenheit seine Lupe weg, und das nicht ein Mal, sondern mehrmals, immer wieder, und jedes Mal ganz gegen ihre Gewohnheit ohne ein böses Wort. Aber er fand die Verstecke immer. Sie waren so simpel und schlecht ausgedacht, als ob etwas in ihr wollte, dass er weitermachte mit seinen komischen, kranken Spielen. Diesen stummen Kampf führten sie monatelang, bis er dazu überging, die Lupe immer bei sich zu tragen, selbst in der Schule, wo er gar keine Verwendung für sie hatte.
    Niemand dort kannte seinen geheimen Schatz. Er hatte keine Freunde und keine Feinde. Anfangs hatten ihn einige Mitschüler gehänselt, weil er für sein Alter klein und dünn war. Aber mittlerweile traute sich niemand mehr an ihn heran. Kinder besitzen ein feines Gespür dafür, welche Angriffe echte Wunden schlagen, und ihm konnten sie nichts anhaben. Mehrfach war er von den Stärkeren der Klasse verprügelt worden. Er hatte sich nicht gewehrt, aber sein Blick hatte ausgereicht: Es machte keinen Spaß, ihn zu quälen.
    Es machte eher Angst.

ERSTER TEIL

1
    Montag, 8. 7., 12.10 Uhr
    Die Frau trug ein gelbes T-Shirt und eine schmutzig graue Jogginghose, als sie zum letzten Mal in ihrem Leben die Tür öffnete. Sie sah den Mann mit der Zeitung und wusste sofort, worum es ging. »Nein«, sagte sie leise, »ich war das nicht, ehrlich.«
    Aber sie war es eben doch gewesen.
    Sie fühlte sich so fertig und kaputt,
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