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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still
Autoren: Christa von Bernuth
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ihren ständigen Forderungen nach Liebe und Fürsorge). Sie fiel ins Bodenlose, sie stöhnte, bis die Visionen abgelöst wurden von einer Wand, die unaufhörlich wuchs und schließlich alles vernichtete, was an ihr lebendig war. »Kämpfen Sie nicht dagegen an.« Das waren die letzten Worte, die sie hörte, bevor die schwarze Einsamkeit sie verschlang.

2
    Dienstag, 15.7., 4.00 Uhr
    Es war immer dieselbe Kneipe in der sie sich trafen, ein ehemaliges Striplokal mit dem hochtrabenden Namen Palais , das anschließend zu einem Club umfunktioniert worden war, bis auch der neue Betreiber pleite ging. Heute kamen nur noch Trinker der untersten Kategorie. Dafür hatte das Palais jede Nacht bis sechs Uhr morgens geöffnet, dem offiziellen Ende ihrer Arbeitszeit.
    In dieser Nacht stießen David und sein Partner Janosch die Tür auf wie jede Nacht, wenn sie Dienst hatten. Wie jede Nacht blickten die vier, fünf traurigen Gestalten im Lokal kurz auf und rasch wieder auf ihr Glas herunter, als sie die beiden jungen, gesunden Männer erkannten, die nicht dazu- und nicht hierher gehörten. Sie kamen aus einer Welt voller Kraft und Energie, deren reine Existenz den Männern an der Bar mittlerweile ganz unmöglich schien, vor allem um diese Uhrzeit, vor allem an diesem heruntergekommenen Ort mit seinem schmuddligen Tresen und seinen abgewetzten, fleckigen Plüsch-Separees.
    David und Janosch blieben einen Moment stehen, um sich in der schummrigen Beleuchtung zu orientieren. Jeder von ihnen trug eine Plastiktüte voller bunter Pillen, braunen, harzig duftenden »Pieces«, weißer Kristalle. In wenigen Sekunden würden sie ihre Tüten auf den Tisch knallen, die anderen würden sie mit Hallo begrüßen, und sie würden feiern: dass eine weitere erfolgreiche Nacht hinter ihnen lag, in der sie im Namen des Gesetzes beschlagnahmt hatten, was in und vor den Clubs an illegalen Waren an minderjährige und andere Kunden gebracht werden sollte. Sie hatten sich als potenzielle Käufer und als potente Händler ausgegeben. In dieser Nacht hatten sie mehrere vierzehnjährige Mädchen gefilzt, die geschminkt und aufgetakelt wie Nutten waren, und sie hatten zwei sechzehnjährige Jungs als strafmündig erkannt und festgenommen, sie hatten in ihrem Zivilfahrzeug einen Deal beim Abwickeln beobachtet und waren in letzter Sekunde eingeschritten.
    In solchen Momenten empfanden sie sich als die wahren Könige der Straße, und dass sie auf der Seite der Guten waren, erhöhte nur noch ihr Machtgefühl. Die anderen waren nur Statisten in einem Stück, dessen Ausgang Janosch und David bestimmten. Mit dem wiegenden Gang der Leute, die wussten, was in der Szene abging , die den Durchblick hatten, durchquerten sie das Lokal auf der Suche nach dem Rest der Truppe.
    Aber diesmal war ihr Stammplatz leer. Janosch machte ein enttäuschtes Gesicht und ging aufs Klo, David bestellte an der Theke zwei Bier für sich und ihn und setzte sich allein an den Tisch ganz hinten im Lokal. Er war in dieser halb euphorischen, halb übermüdeten Stimmung, in der er dringend etwas zu trinken brauchte, um später wenigstens ein paar Stunden schlafen zu können. Seine Augen brannten, sein Herz schlug zu schnell. Der Polizeiarzt hatte letzte Woche Herzrhythmusstörungen festgestellt und ihm angeboten, ein Attest zu schreiben. Natürlich hatte David abgelehnt. Er brauchte keinen Zwangsurlaub, sondern diesen Job. In mehr als einer Beziehung. Er zündete sich eine Zigarette an.
    Ein älterer Mann in fadenscheinig aussehender Kellnerkluft brachte das Bier. Im selben Moment kam Janosch an den Tisch zurück. David sah ihm ins Gesicht: ein Spiegelbild seiner eigenen Verfassung. Janosch war blass, seine Augen hatten dunkle Ringe und glänzten fiebrig.
    »Alles klar mit dir?«, fragte David.
    »Ja. Geht schon.« Vorhin hatten sie noch über dies und das gewitzelt, jetzt wirkte Janosch ernst. Er setzte sich und nahm einen tiefen Schluck Bier. »Hast du noch Zigaretten?«
    »Sicher.« David schob ihm die Schachtel herüber. Janosch nahm eine heraus und sah David dabei nicht an. Beide rauchten und tranken schweigend. Nicht immer war ihr Job spannend, oft erwies er sich auch als die ödeste Sache der Welt. Das war vor allem dann der Fall, wenn sie warten mussten: auf einen eventuellen Deal zum Beispiel oder vor dem Haus eines Verdächtigen, der observiert werden sollte. In solchen Situationen hatten sie von Zeit zu Zeit tief gehende Gespräche geführt – über den Sinn des Daseins, über
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