Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Damals warst du still

Titel: Damals warst du still
Autoren: Christa von Bernuth
Vom Netzwerk:
sie war so elend und matt, und alles war allein ihre Schuld. Der Mann hielt die Zeitung mit jenem Artikel hoch, in dem sie mit vollem Namen zitiert wurde. Als enttäuschte Patientin, deren Depressionen sich durch Fabian Plessens Therapie so verschlimmert hatten, dass sie sich mittlerweile nicht einmal mehr aus dem Haus traute. Sie hätte dieses Interview nie geben dürfen. Das hatte sie nun davon: Nun wollte erst recht niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben. Sie sah zu dem Mann hoch. Ihre Augen waren trübe, ihre Haare fettig, und bestimmt stank es in der Wohnung nach gammligen Pizzaresten und Bettwäsche, die ewig nicht mehr gewechselt worden war.
    »Das sind doch Sie«, sagte der Mann. Seine Stimme klang freundlich, und falls er etwas Unangenehmes roch, ließ er es sich nicht anmerken. »Sonja Martinez. Das sind doch Sie.«
    »Ich war das nicht. Ich hab denen nichts erzählt.«
    »Darum geht’s doch gar nicht. Herr Plessen – Fabian – macht sich Sorgen um Sie. Er hat versucht, Sie anzurufen, aber Sie gehen ja nicht ans Telefon.«
    Die Frau senkte die Augen. Das Telefon war abgemeldet, sie hatte die Gebühren nicht mehr bezahlt.
    »Er möchte, dass es Ihnen besser geht. Deshalb schickt er mich.«
    »Fabian? Ist das wirklich wahr?«
    »Ja. Bitte lassen Sie mich herein. Nur für eine Minute.«
    Ihr wurde plötzlich klar, dass der Mann immer noch auf dem Gang stand. Sie ließ ihn herein. Wenn er von Fabian kam, dann würde ihn das Chaos nicht stören. Fabian kannte die Menschen und ihre Schwächen, er verurteilte niemanden. Oder fast niemanden. Das Einzige, was er hasste, waren Unehrlichkeit und Trotz. Seine Erkenntnisse waren sakrosankt und durften nicht ungestraft in Frage gestellt werden. Ihr hatte er gesagt, dass ihr Mann und ihre Tochter nur ohne sie glücklich und befreit sein könnten. Ihr persönlicher Weg, hatte er gesagt, sei das Alleinsein. Das hatte sie nicht glauben wollen, nicht glauben können. Sie hatte sich dagegen gesperrt, zuletzt mit diesem Interview, das sie immunisieren sollte gegen seinen übermächtigen Einfluss. Und der Lohn war das hier: Sie war so schlecht dran wie nie zuvor.
    »Wie geht es Fabian?«, fragte sie schüchtern, nachdem sie ihrem Besucher einen Stuhl in der Küche freigeräumt hatte.
    »Fabian geht es gut, aber er macht sich Sorgen. Um Sie. Er hat keine Zeit, selbst zu kommen, aber er hat mich vorbeigeschickt.«
    Sie sah ihn fragend an.
    »Sie brauchen Medizin, Sonja«, sagte der Mann. Sie kniff die Augen zusammen (ihre Brille hatte sie schon seit Tagen verlegt, und sie war stark kurzsichtig). Sie erkannte kaum mehr als seine Umrisse.
    »Medizin? Von Fabian?« Fabian hatte nie mit Medikamenten gearbeitet, im Gegenteil, er lehnte sie rigoros ab. Nur Naturheilkundliches ließ er gelten.
    »Ich habe etwas bei mir, das Ihnen den nötigen Push geben wird. Es ist rein pflanzlich. Ganz natürlich.«
    »Oh, das... ist gut.«
    »Haben Sie etwas... Einen Strumpf oder einen Gürtel?«
    »Einen... Strumpf?«
    »Ja. Zum Abbinden Ihres Oberarms. Ich muss Ihnen das Mittel spritzen. Es ist so fein, dass es die Magen-Darm-Schranke nicht passieren kann. Deshalb muss es direkt ins Blut.«
    »Oh.«
    »Haben Sie Angst vor Spritzen?«
    Sie hatte fürchterliche Angst. Nicht nur vor Spritzen, sondern vor allem vor diesem Mann, den sie nicht kannte. Aber sie war noch nie im Stande gewesen nein zu sagen, wenn jemand so nett mit ihr redete wie er. Hypnotisiert von seiner Sicherheit und Freundlichkeit krempelte sie den Ärmel ihres T-Shirts hoch. Ein letzter Versuch, ihrem Schicksal zu entgehen: »Muss das wirklich sein? Ich meine, ich glaube gar nicht, dass ich wirklich etwas brauche, ich brauche eigentlich nur etwas mehr Schlaf.«
    Der Mann hatte nun etwas in der Hand, das aussah wie ein Riemen. »Lehnen Sie sich einfach zurück«, sagte er. Seine Stimme wurde tiefer, verfiel in eine Art Singsang, der sie irgendwie an Fabian erinnerte. »Einfach zurücklehnen«, sagte die Stimme. »Es ist gleich vorbei. Nur ein kleiner Piks...«
    Sonja schloss die Augen, willenlos, hoffnungslos. Sie spürte, wie der Mann etwas um ihren Oberarm wickelte, sie hörte, wie er sie bat, mit ihrer Hand eine Faust zu machen. Schließlich spürte sie den Stich. Fast im selben Moment schien sie abwärts zu rasen. Ein wahnsinniger, tödlicher Schwindel erfasste sie, Bilder stürzten auf sie ein (ihr Mann und ihre Tochter zusammen in Spanien am blauen Meer, sie lachten glücklich, weil sie endlich frei waren – frei von ihr und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher