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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin
Autoren: Der Uebergang
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wird.«
    »Vielleicht nicht. Ich will nur, dass es klar
ist. Und es war auch keine Bitte. Verhalt dich einfach dementsprechend. Greer?
Verstanden?« Der Major nickte.
    Doch ihre Ankündigung war überflüssig. Sie
wussten es, als sie die letzte Kehre über der Oberen Weide erreicht hatten. Sie
konnten die Mauer jetzt sehen. Sie ragte zwischen den Bäumen auf. Die Feuerposten
waren verwaist, und von der Wache war keine Spur. Eine gespenstische Stille hing
über dem Ort. Das Tor stand offen und war unbewacht.
    Die Kolonie war leer.
     
    Sie fanden zwei Leichen.
    Die erste war Gloria Patel. Sie hatte sich im
Großen Raum in der Zuflucht erhängt, zwischen leeren Betten und Pritschen. Sie
war auf eine hohe Trittleiter gestiegen und hatte den Strick an einem
Deckenbalken in der Nähe der Tür befestigt. Die Leiter lag jetzt unter ihren
Füßen auf dem Boden. Es sah aus, als hätte sie sich gerade eben erst die
Schlinge um den Hals gelegt und die Leiter weggestoßen.
    Die andere Tote war Auntie. Peter war es, der
sie fand. Sie saß auf einem Küchenstuhl auf der kleinen Lichtung vor ihrem
Haus. Sie war schon seit Monaten tot, das konnte er sehen, aber ihr Äußeres war
kaum verändert. Nur als er die Hand auf ihrem Schoß berührte, spürte er die
kalte Starre des Todes. Ihr Kopf war nach hinten geneigt, und ihr Gesicht sah
friedlich aus, als sei sie einfach eingeschlafen. Er wusste, sie war
herausgekommen, als es dunkel geworden war und die Scheinwerfer nicht
angingen. Sie hatte einen Stuhl in den Garten getragen und sich hingesetzt und
die Sterne angeschaut.
    »Peter.« Alicia berührte seinen Arm, als er noch
vor der Toten kauerte. »Peter, was willst du jetzt tun?«
    Gewaltsam riss er den Blick von Auntie los, und
erst jetzt merkte er, dass er Tränen in den Augen hatte. Die andern standen wie
stumme Zeugen hinter Alicia.
    »Wir sollten sie hier beerdigen. Bei ihrem Haus,
in ihrem Garten.«
    »Das werden wir tun«, sagte Alicia behutsam.
»Ich meinte die Scheinwerfer. Es wird bald dunkel. Michael sagt, wir haben
genug Strom.«
    Er blickte an ihr vorbei zu Michael hinüber, und
der nickte.
    »Okay«, sagte er.
    Sie schlossen das Tor und versammelten sich auf
dem Sonnenfleck - alle außer Michael, der ins Lichthaus gegangen war. Es fing
an zu dämmern, und der Himmel färbte sich violett. Alles war wie in einem
Schwebezustand; nicht einmal die Vögel sangen. Mit einem hörbaren Plopp
strahlte das Flutlicht auf und übergoss sie alle mit grellem, endgültigem
Gleißen.
    Michael erschien. »Für diese Nacht dürften wir
in Sicherheit sein.«
    Peter nickte. Eine Zeitlang schwiegen sie alle
im Angesicht einer unausgesprochenen Wahrheit: Noch eine Nacht, und die
Lichter der Ersten Kolonie würden für immer erlöschen.
    »Und was jetzt?«, fragte Alicia.
    In der Stille spürte Peter jeden seiner Freunde.
Alicia, deren Mut ein Teil von ihm war. Michael, der rank und schlank geworden
war, ein Mann. Greer mit seiner weisen, soldatischen Haltung. Und Amy. Er
dachte an all das, was er gesehen hatte, und an die, die gestorben waren -
nicht nur die, die er gekannt hatte, sondern auch alle andern -, und er wusste,
wie die Antwort lautete.
    »Jetzt«, sagte er, »ziehen wir in den Krieg.«
     
    74
     
    Amy schlich sich allein aus dem Haus, kurz vor
dem Morgengrauen. Es war das Haus der Frau namens Auntie, die gestorben war.
Sie hatten sie in die Steppdecke von ihrem Bett eingewickelt und da begraben,
wo sie gesessen hatte. Peter hatte ihr ein Foto aus ihrem Schlafzimmer auf die
Brust gelegt. Der Boden war hart, und sie hatten stundenlang graben müssen, und
als sie fertig waren, hatten sie beschlossen, hier zu übernachten. Das Haus der
Frau, hatte Peter gesagt, sei so gut wie jedes andere. Er hatte ein eigenes,
das wusste Amy, aber da wollte er anscheinend nicht hin.
    Peter war fast die ganze Nacht aufgeblieben; er
hatte in der Küche der alten Frau gesessen und in ihrem Buch gelesen. Blinzelnd
hatte er im Licht der Laterne die Seiten mit ihrer kleinen, säuberlichen Handschrift
umgeblättert. Er hatte sich eine Tasse Tee aufgebrüht, aber er trank ihn nicht;
er stand unberührt und über der Lektüre vergessen neben ihm auf dem Tisch.
    Endlich war Peter schlafen gegangen, genau wie
Michael und Greer, die nach Halbnacht die Wache mit Alicia getauscht hatten.
Alicia war immer noch oben auf der Mauer. Amy trat hinaus auf die Veranda und
hielt die Tür fest, damit sie nicht hinter ihr zuschlug. Der Boden unter ihren
Füßen war kühl
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