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Collins, Suzanne

Collins, Suzanne

Titel: Collins, Suzanne
Autoren: Flammender Zorn (Die Tribute von Panem Bd 3)
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meine Pillen
horten und dann eine tödliche Dosis nehmen, aber bestimmt werde ich rund um
die Uhr beobachtet. Auch in diesem Augenblick dürfte ich live zu sehen sein,
während die Kommentatoren darüber spekulieren, was mich bewogen haben könnte,
Coin zu töten. Die Überwachung schließt praktisch jeden Selbstmordversuch aus.
Das Privileg, mein Leben zu nehmen, gebührt dem Kapitol. Wieder einmal.
    Ich kann nur aufgeben. Ich beschließe, einfach liegen zu
bleiben und weder Essen noch Trinken oder Medikamente zu mir zu nehmen. Ich
könnte das, einfach sterben. Wenn da nicht die Entzugserscheinungen wären.
Anders als auf der Krankenstation in 13 wird das Morfix jetzt ja nicht nach
und nach abgesetzt. Kalter Entzug. Ich muss auf einer ziemlich hohen Dosis
gewesen sein, denn wenn das Verlangen einsetzt, begleitet von Zittern,
stechenden Schmerzen und unerträglichem Schüttelfrost, wird mein Entschluss
zermalmt wie eine Eierschale. Ich kauere auf den Knien, harke mit den Fingern
durch den Teppich und suche verzweifelt nach den kostbaren Pillen, die ich in
einem Moment der Stärke weggeschleudert habe. Mein Selbstmordplan lautet daher
jetzt: langsamer Tod durch Morfix. Zum gelbhäutigen Klappergestell mit
riesigen Augen werden. Ein paar Tage halte ich den Plan durch und mache gute
Fortschritte, als etwas Unerwartetes geschieht.
    Ich fange an zu singen. Am Fenster, unter der Dusche, im
Schlaf. Stundenlang singe ich Balladen, Liebes- und Berglieder. All die Lieder,
die mein Vater mir beigebracht hat, bevor er starb, denn seither hatte die
Musik in meinem Leben natürlich nur noch wenig Platz. Ich wundere mich, wie
deutlich ich mich daran erinnere. Die Melodien, die Texte. Meine Stimme, anfangs
rau und brüchig in den höheren Lagen, findet sich nach und nach. Eine
großartige Stimme, bei der die Spotttölpel erst verstummen und sich dann
überschlagen würden, um einzustimmen. Tage vergehen, Wochen. Ich sehe zu, wie
der Schnee aufs Fensterbrett fällt. Und in all der Zeit ist meine Stimme die
einzige, die ich höre.
    Was machen die bloß? Warum dieser Stillstand da draußen?
Es kann doch nicht so schwer sein, die Hinrichtung einer jungen Mörderin zu
arrangieren. Ich setze die Selbstzerstörung fort. Mein Körper ist dünner denn
je und mein Kampf gegen den Hunger so erbittert, dass der animalische Teil in
mir manchmal die Oberhand gewinnt und der Versuchung von Butterbroten oder
gebratenem Fleisch nachgibt. Doch nur manchmal. Ein paar Tage lang geht es mir
so schlecht, dass ich denke, jetzt verlasse ich bald dieses Leben, da merke
ich plötzlich, dass die Morfix-Tabletten kleiner werden. Sie versuchen, mich zu
entwöhnen. Aber wieso? Einen betäubten Spotttölpel kann man doch bestimmt
leichter vor einer Menge dirigieren. Dann kommt mir ein schrecklicher Gedanke:
Was, wenn sie mich gar nicht töten wollen? Wenn sie noch etwas mit mir
vorhaben? Eine neue Art, mich herzurichten, zu trainieren und zu benutzen?
    Das mache ich nicht mit. Wenn ich mich nicht in diesem
Raum umbringen kann, nutze ich eben die erste Gelegenheit draußen, um es hinter
mich zu bringen. Sie können mich mästen. Sie können meinen ganzen Körper
aufpolieren, mich einkleiden und wieder schön machen. Sie können Traumwaffen
designen, die in meinen Händen lebendig werden, aber mein Gehirn werden sie nie
wieder so manipulieren können, dass ich diese Waffen unbedingt benutzen muss.
Ich empfinde keinerlei Verpflichtung mehr gegenüber diesen Monstern, die man
Menschen nennt und von denen ich selbst eines bin. Vermutlich stimmt Peetas
Theorie, dass wir uns alle gegenseitig vernichten, um einer anständigeren Art
Platz zu machen. Denn ein Geschöpf, das seine Kinder opfert, um Konflikte auszutragen,
ist gewaltig auf dem Irrweg. Man kann es drehen, wie man will. Snow hielt die
Hungerspiele für ein wirksames Kontrollinstrument. Coin dachte, die
Fallschirme würden den Krieg verkürzen. Und wem hat es letztendlich genützt?
Keinem. Die Wahrheit ist, dass es keinem nützt, in einer Welt zu leben, wo so
etwas passiert.
    Nachdem ich zwei Tage auf der Matratze gelegen habe, ohne
zu essen, zu trinken oder auch nur eine Morfix-Tablette einzunehmen, wird die
Tür geöffnet. Jemand tritt ans Bett, in mein Gesichtsfeld. Haymitch. »Dein
Prozess ist zu Ende«, sagt er. »Los, wir fahren nach Hause.«
    Nach Hause? Was redet er da? Mein Zuhause gibt es nicht
mehr. Und selbst wenn es möglich wäre, an diesen imaginären Ort zu gehen, ich
wäre zu schwach dazu.
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