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Collins, Suzanne

Collins, Suzanne

Titel: Collins, Suzanne
Autoren: Flammender Zorn (Die Tribute von Panem Bd 3)
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Hälfte der Häuser,
einschließlich Haymitchs und meinem, brennt Licht. In Peetas nicht. Jemand hat
in meiner Küche ein Feuer angezündet. Ich setze mich in den Schaukelstuhl
davor, in der Hand den Brief meiner Mutter.
    »Tja, dann bis morgen«, sagt Haymitch.
    »Das wage ich zu bezweifeln«, murmele ich, während das
Klirren der Schnapsflaschen in seiner Tasche verklingt.
    Ich komme nicht mehr aus dem Stuhl raus. Der Rest des
Hauses rückt kalt und leer und dunkel näher. Ich lege mir einen alten Schal
über und starre in die Flammen. Ich muss eingeschlafen sein, denn kurz darauf
ist es Morgen und Greasy Sae macht sich geräuschvoll am Herd zu schaffen. Sie
brät mir Eier mit Toast und setzt sich zu mir, bis ich alles aufgegessen habe.
Wir reden nicht viel. Ihre kleine Enkelin, die in ihrer eigenen Welt lebt,
nimmt sich ein hellblaues Garnknäuel aus dem Strickkorb meiner Mutter. Greasy
Sae sagt ihr, sie solle es zurücklegen, aber von mir aus kann sie es haben. In
diesem Haus gibt es niemanden mehr, der strickt. Nach dem Frühstück spült Greasy
Sae das Geschirr und geht, doch abends kommt sie wieder und sorgt dafür, dass
ich etwas esse. Ob sie nur gute Nachbarschaft demonstrieren will oder ob die
Regierung sie dafür bezahlt, weiß ich nicht, jedenfalls lässt sie sich zweimal
am Tag blicken. Sie kocht, ich esse. Ich versuche mir vorzustellen, was ich als
Nächstes mache. Es gibt nichts mehr, was mich daran hindern würde, mir das Leben
zu nehmen. Doch irgendwie scheine ich auf etwas zu warten.
    Manchmal klingelt das Telefon, klingelt und klingelt, doch
ich gehe nicht dran. Haymitch kommt nie zu Besuch. Vielleicht hat er es sich
anders überlegt und ist abgereist, aber vermutlich ist er einfach nur zu
betrunken. Niemand besucht mich, außer Greasy Sae und ihrer Enkelin. Nach
monatelanger Einsamkeit kommen sie mir vor wie eine Menschenmenge.
    »Frühling liegt in der Luft. Du solltest rausgehen«, sagt
Greasy Sae. »Geh jagen.«
    Ich habe das Haus kein einziges Mal verlassen. Nicht mal
die Küche habe ich verlassen, außer um in das kleine Bad zu gehen, ein paar
Schritte weiter. Ich trage noch dieselben Sachen wie an dem Tag, als ich das
Kapitol verließ. Ich tue nichts anderes, als am Feuer zu sitzen. Starre auf die
ungeöffneten Briefe, die sich auf dem Kaminsims stapeln. »Ich habe keinen
Bogen.«
    »Schau mal hinten im Flur nach«, erwidert sie.
    Nachdem sie gegangen ist, überlege ich, ob ich in den Flur
gehen soll. Verwerfe die Idee. Nach ein paar Stunden gehe ich trotzdem, auf
Socken, als wollte ich die Geister nicht wecken. Im Arbeitszimmer, wo ich mit
Präsident Snow Tee getrunken habe, steht ein Karton mit der Jagdjacke meines
Vaters, unserem Pflanzenbuch, dem Hochzeitsfoto meiner Eltern, dem Zapfhahn,
den Haymitch uns geschickt hatte, und dem Medaillon, das Peeta mir in der
letzten Arena geschenkt hat. Auf dem Tisch liegen die beiden Bogen und ein
Köcher mit Pfeilen, gerettet von Gale in der Nacht der Bombardierung. Ich
ziehe die Jagdjacke über, die anderen Sachen rühre ich nicht an. Im
eigentlichen Wohnzimmer schlafe ich auf dem Sofa ein.
    Ein schrecklicher Albtraum kommt: Ich liege auf dem Grund
eines tiefen Grabs, und jeder Tote, den ich beim Namen kenne, tritt heran und
wirft eine Schaufel Asche auf mich. Angesichts der vielen Namen wird es ein
langer Traum, und je tiefer ich eingegraben werde, desto schwerer fällt mir das
Atmen. Ich versuche zu rufen, bitte sie aufzuhören, doch die Asche setzt sich
in Mund und Nase, und ich bringe keinen Laut hervor, während die Schaufel immer
weiter schrappt, schrappt und schrappt ...
    Plötzlich wache ich auf. Bleiches Morgenlicht fällt durch
die Jalousien. Das Schrappen der Schaufel geht weiter. Noch halb im Albtraum,
laufe ich den Flur hinunter, durch die Vordertür hinaus, am Haus entlang, denn
jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass ich die Toten anschreien kann. Als ich
ihn dann vor mir sehe, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Sein Gesicht ist
gerötet, er gräbt den Boden unter den Fenstern um. In einer Schubkarre warten
irgendwelche Pflanzen.
    »Du bist wieder da«, sage ich.
    »Dr. Aurelius wollte mich bis gestern nicht aus dem
Kapitol rauslassen«, sagt er. »Übrigens meinte er, ich soll dir sagen, er könne
nicht ewig nur so tun, als würde er dich behandeln. Du musst schon mal den
Hörer abnehmen.«
    Er sieht gut aus. Abgemagert und mit Brandwunden übersät
wie ich, aber seine Augen haben diesen umwölkten, gequälten Blick verloren.
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