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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Autoren: Matthew Skelton
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jetzt, mitten in der Nacht, kletterte sie heimlich wieder hinein.
    »Mach schnell«, hatte er sie ermahnt. »Wir warten draußen auf dich, falls etwas schiefgeht.«
    Sie hatte genickt, lächelnd. Der Junge hatte ihr angeboten mitzukommen, aber was jetzt zu tun war, musste sie allein tun. Vorhin, als sie auf dem Dach des Observatoriums zugehört hatte, wie Mr Hardy Cirrus von seinen Eltern erzählte, war sie traurig geworden, wenn sie sich auch gefreut hatte, dass der Junge wieder glücklicher aussah. Unwillkürlich hatte sie an ihren Zwillingsbruder denken müssen, der tot unter der Erde lag, und einmal mehr hatte sie sich danach gesehnt, das zerschlissene Stoffstückchen ihrer Mutter wieder in Händen zu halten. Mit den Fingern hatte sie die vertrauten Buchstaben in die Luft geschrieben: H-O-F-F-N-U-N-G. Und auf einmal hatte sie gewusst, was sie tun musste.
    Sie sah sich hastig um, ging leise durch das Zimmer und schlüpfte durch die offene Tür in den dunklen verlassenen Gang. Im Haus war es still. Und wie Pandora wusste, würde es auch noch ein paar Stunden dauern, bis Mr Sorrel aufstehen und sein Frühstück machen würde. Auf Zehenspitzen ging sie durch den oberen Gang und tastete sich die Treppe hinunter.
    Die Küche war dunkel und kalt. Verkohlte Holzreste lagen im Kamin. Sie nahm die Zunderbüchse, die Mr Sorrel immer neben dem Herd liegen hatte, zündete eine Kerze an und schirmte die Flamme mit der Hand ab. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Schlüsselbund am Haken neben der Tür, dann ging sie im zuckenden Kerzenlicht durch das Haus bis zur vorderen Eingangshalle.
    Die Vorhänge zum Behandlungszimmer waren offen und ließen in der Dunkelheit schwach die Mesmerismuswanne und die Stühle darum herum erkennen. Flüchtig dachte Pandora an die Patienten, die sie hier auf dem Boden hatte liegen sehen – ihrer Erinnerungen beraubt. Schnell ging sie die Marmortreppe hinauf.
    In Madame Orrerys Privatgemächern war sie noch nie gewesen und nun, da sie auf der Schwelle stand, verlor sie fast den Mut. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie Angst hatte, Madame Orrery könnte es für Türklopfen halten.
    Sie lauschte angestrengt, und als sie überzeugt war, dass sich auf der anderen Seite niemand befand, steckte sie vorsichtig den Schlüssel ins Schloss, sperrte auf und drehte leise den Türknauf.
    Die Tür öffnete sich einen Spalt, und sie schlich hinein.
    Entsetzt fuhr sie zurück, als an der gegenüberliegenden Wand ein Licht aufflackerte. Ein geisterhaftes Gesicht starrte ihr aus dem Spiegel entgegen. Sie erkannte sich erst nicht: die Hose und die kurze blaue Jacke ließen sie wie ein Junge aussehen. Dann drehte sie sich um. Das Zimmer war überfüllt mit goldverzierten Möbelstücken und Uhren. Alle Uhren waren stehen geblieben, wie Pandora leicht schaudernd feststellte.
    Ihre Gedanken überschlugen sich, als ihr einfiel, was Mr Sorrel über Madame Orrerys Vergangenheit erzählt hatte: dass ihr Ehemann der angesehenste Uhrmacher Frankreichs gewesen war. Vielleicht war dies das Zimmer, in dem Madame Orrery ihre wertvollsten Besitztümer zusammengetragen hatte, die Reste ihrer Vergangenheit.
    Nervös hielt Pandora Ausschau nach ihrem geliebten Stoffstück. Wo könnte die Frau es aufbewahren? Voller Angst sah sie im Kamin nach und betete, dass Madame Orrery es nicht etwa verbrannt hatte.
    Plötzlich stockte ihr der Atem. In der Tür zum Nebenzimmer stand, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, eine Gestalt.
    Pandora fuhr herum, unterdrückte aber den Drang zu fliehen, und nach einer Weile merkte sie, dass die Gestalt sich nicht bewegte: Es war nichts anderes als eine Schneiderpuppe, auf der eines von Madame Orrerys vielen silbrig schimmernden Kleidern drapiert war. Dahinter musste ihr Schlafzimmer sein …
    Sie holte tief Luft, griff fester um die Kerze und ging leise zur Tür.
    Im angrenzenden Zimmer stand ein großes, von schweren Damastvorhängen umsäumtes Himmelbett; die Vorhänge waren zum Glück nicht ganz zugezogen. Madame Orrery lag unter der Decke, ihr Haar ruhte wie ein hauchfeines Gespinst locker auf dem Kissen. Auf einer Frisierkommode in der Ecke standen Parfümfläschchen, auch Bürsten, Kämme und Haarteile lagen dort. Mit Nelken gespickte Orangen gaben der Zimmerluft etwas Würziges. Alle Gegenstände waren von einer feinen Staubschicht überzogen.
    Da die Fensterläden offen standen, konnte Pandora durch die dunklen Glasscheiben schwach schimmernde Lichtstreifen hin und her wabern sehen – noch
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