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Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Autoren: Tarek Siddiqui
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Rauswurf, so als seien wir aufdringliche, ungebetene Gäste. Die Angst ist vergessen, der Tod fern, es kann nicht nur, es muss weitergehen.
    Manche Tage hinterließ en Spuren. Einer meiner ersten Einsätze, ich war mit Metz unterwegs, führte zu einem Paar, beide weit über achtzig Jahre alt, aber noch selbständig. Der Tisch liebevoll hergerichtet, Gläser mit Goldrand fielen mir ins Auge, unwillkürlich spürte ich den Geschmack eines zu süßen Weins am Gaumen. Noch kein einziger Gast, aber acht Gedecke für den sechzigsten Hochzeitstag, wie immer man den auch nennt. Der betagte Hausherr erklärte es uns in einer Mischung aus Stolz und Entsetzen, als er die Tür öffnete, dazu so etwas wie blankes Nichtverstehen, dass dieser Tag ganz anders verlief als geplant, so ganz anders, als sie es verdient hatten.
    Seine Frau war auf der Toilette zusammengebrochen und musste erst ins Wohnzimmer geschafft werden, wo mehr Platz war. Wir schoben den Tisch beis eite; eines der Gläser mit Goldrand kippte um und zerbrach. Legten unsere Patientin, so wie sie war, die Hose an den Knien, auf den dichten braunen Teppich. Nicht ansprechbar, keinerlei Reflexe, keine Atmung feststellbar, kein Puls: klinisch tot, soweit wir feststellen konnten, aber noch nicht lange. Nur drei oder vier Minuten waren wir unterwegs gewesen, und vielleicht hatte ihr Herz gerade eben erst ausgesetzt. Die Pupillen sahen gut aus, noch nicht entrundet, wenn auch die Augen blicklos waren. Für uns befand sie sich damit im Dazwischen, an der Schwelle zum Unumkehrbaren, aber noch in Reichweite. Wir begannen mit der Wiederbelebung, wie es ohne ärztliche Todesfeststellung unsere Pflicht war.
    Die Reanimation ist eigentlich einfach. Luft in den Kö rper hineinpressen mit einem Beatmungsbeutel, um das Blut mit Sauerstoff anzureichern. Herzdruckmassage, um einen Minimalkreislauf aufrechtzuerhalten und Schäden am Gehirn zu verhindern, das so sehr auf eine lückenlose Versorgung angewiesen ist. Lange geht das nicht gut, aber der Notarzt ist unterwegs.
    Nebenher bereiten wir das EKG-Gerä t vor und schließen die Elektroden an, legen Medikamente bereit, die der Notarzt verlangen wird: Adrenalin, Atropin, Lidocain. Eine Rippe bricht mit trockenem Geräusch unter dem Druck meines Handballens. Gelegentlich spüre ich Reibung an der Bruchstelle, und das leichte Kratzen durchläuft mein eigenes, unversehrtes Skelett von der Schädeldecke bis zu den Zehen.
    Der Notarzt ist da. Am EKG eine Nulllinie, immerhin kein Kammerflimmern, k urzer Bericht; sein Fahrer, auch er Rettungsassistent, reicht die vorbereiteten Medikamente an, er spritzt intravenös. Steckt die blutigen Kanülen der beiden Spritzen in die mit grünem Velours bezogene Armlehne eines Sessels. Der Defibrillator wird aufgeladen, zweihundertfünfzig Joule, weg jetzt, Entladung: Tatsächlich, da ist es wieder, das Herz, schwach aber vernehmbar. Keine Herzdruckmassage mehr, mir schmerzen Hände und Knie. Ein Tubus wird in die Luftröhre gelegt, um sicherzustellen, dass der reine Sauerstoff, der jetzt aus einem tragbaren Beatmungsgerät strömt, vollständig die Lunge erreicht. Die Tasche für den Defibrillator lässt sich nicht mehr schließen; der Reißverschluss, diese Sollbruchstelle der Zivilisation, ist ausgehakt, und ich spüre Ärger über die Unzulänglichkeiten des Gewöhnlichen. Wir räumen eilig zusammen, werfen das Material einfach in den Koffer, holen die Trage, jetzt, los, ins Auto. Der fassungslose Ehemann folgt uns zur Tür, hinter ihm die gebrauchten Kanülen im Sessel, Glassplitter und ein kleiner Fleck dunklen Blutes auf dem Teppich. Es wird doch alles wieder gut, ja, fragt er – und der Arzt, während wir anderen froh sind, tragen zu müssen, sagt das einzig Richtige, das Herz schlägt wieder, und wir tun unser Bestes, keine Sorge.

    Vier Tage später starb die Frau im Krankenhaus, ohne je wieder das Bewusstsein erlangt zu haben – das erfuhr ich auf eine beiläufig gestellte Frage, deren Beantwortung natürlich streng genommen ein Verstoß gegen das Patientengeheimnis war. Ich weiß nicht, auf irgendeine Art schien es mir besonders trostlos, dass es der Mann war, der zurückblieb – meistens sind es die Frauen, die am Ende gesünder sind, zumindest zäher, oft auch jünger. Die den Mann in den Alltagsdingen des Alters über Jahrzehnte unterstützt haben, im besten Fall, ohne dass er es zu sehr merkt. Wer hatte abgedeckt, den Tisch wieder zurückgeschoben? Wer die Kanülen aus den Armlehnen
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