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Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Autoren: Tarek Siddiqui
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und verstopft alle Poren, ich fühle es fast körperlich. Natürlich, Jan Härting, dem Hubschraubermann, wurde ein außergewöhnliches Gespür dafür nachgesagt, wann die nächste Alarmierung erfolgen werde. Es gab mehreren Anekdoten als Beleg. Dahinter stand unausgesprochen die Idee von einer Art Superheld, der es noch nicht in die Comicbuchläden geschafft hatte: Den Retter mit einem sechsten Sinn für den Gesundheitszustand der Menschen in seinem Einsatzgebiet. Was Härting von den ihm unterstellten Gaben hielt, das weiß ich nicht.
    Ich jedenfalls fand es ä rgerlich – dieses Fragment Ersatzreligion.

    Dabei war der Severinsbund natürlich ohnehin der Religion verpflichtet. Ein A4-großes, bronzenes Kreuz auf der Holztäfelung des Aufenthaltsraumes deutete sie an, die bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückreichenden Wurzeln der Organisation. Mir war’s ganz gleich, um die Wahrheit zu sagen. Religion ist für mich immer etwas gewesen, das ich wie von außen betrachtet habe. So wie viele Dinge, so als ginge es mich nichts an. Ihr immer wieder vorgebrachter Monopolanspruch auf die Erfindung der Moral ist leicht zu widerlegen. Und nur innerhalb eines geschlossenen, sehr begrenzten Gesichtsfeldes und mit einigem guten Willen – um nicht zu sagen mit einiger Entschlossenheit – lässt sich der Eindruck bewahren, es gäbe ein göttliches Walten in Form von Parteinahme, Belohnung und Bestrafung; in einer kleinen Dorfgemeinschaft vielleicht. Keinesfalls ist der Rettungsdienst geeignet, derartige Überzeugungen zu fördern. Viel zu unterschiedslos und unstrukturiert reihen Leid und Unglück sich aneinander.
    Jeder schü tzt sich dagegen auf seine Weise. Wegmann etwa hegte eine pragmatische, wenig religiöse Überzeugung: „Schon mit acht – mit acht! - ist mir klar geworden, dass nie genau das eintritt, was man erwartet. Seitdem versuche ich mir das Schlimmstmögliche immer detailliert und in vielen Varianten vorzustellen, weil ich dann sicher sein kann, dass es nicht passiert. Zumindest nicht so.“ Er machte sich selbst lustig über diese Art des Katastrophenschutzes, und doch bewiesen einzelne Satzfetzen, absichtslose Äußerungen, wie sehr er danach lebte.
    Meine Areligiositä t jedenfalls war kein Mangel und passte ganz gut zu der gelebten Praxis bei den Severitern, denn abgesehen von gelegentlichen Feldgottesdiensten und der obligatorischen Segnung der Einsatzfahrzeuge gab es wenige Sentimentalitäten. Und was es an Sentimentalitäten noch gegeben haben mochte, das verwischte der Alltag in der Notfallrettung.

    Meine Mutter kommt mir in den Sinn, die, wann immer sie ein Martinshorn hört, Dramatik und Blut vor Augen hat, und mir kaum glauben wollte, dass es bei den meisten unserer Fahrten nicht gleich um Leben und Tod ging. Manche Einsätze hatten dank der Besonderheiten des menschlichen Körpers und des darin wohnenden Geistes sogar eine heitere Komponente: Während der Landesmeisterschaften im Cheerleading rückten wir innerhalb weniger Stunden viermal zum gleichen Ort aus, viermal mit der gleichen Diagnose - aufregungsbedingte Hyperventilation, Atemnot durch fortgesetzt zu schnelles Atmen. Eingesetztes Rettungsmittel: eine Papiertüte und beruhigende Worte.
    Die Wohnungen hingegen, die man betrat, waren oft ernü chternd. Ungelüftete Räume voller Erinnerungsstücke und mit verblichenen, hoffnungslos aus der Mode gekommenen Tapetenmustern. Heruntergelassene Rollos am helllichten Tage, ganze Familien wie in Hypnose vor enormen Großbildfernsehern, als stünde die erste Landung auf dem Mars unmittelbar bevor oder ein alles beendender Meteoriteneinschlag. Im Gespräch wenden sich die Augen der Angehörigen immer wieder zum Bildschirm, so wie Blumen sich hin zur Sonne wenden: Magisch angezogen von der freundlichen Strenge eines Fernsehrichters oder den erregten Gesichtern der Talkshowgäste, während ihre eigenen Mienen trotz des Notfallgeschehens merkwürdig teilnahmslos bleiben.
    Dann wieder Menschen, die nichts anderes wollen, als weiter eigenstä ndig zu wohnen, allein oder mit einem beständig in Sorge lebenden Partner. Oft sind sie schon namentlich bekannt: Der Gesundheitszustand immer an der Grenze des verantwortbaren, greifen sie oder ihre Angehörigen bei jeder Abweichung in Panik zum Telefon. Sind wir dann vor Ort und geht es schon wieder etwas besser – vielleicht nur deshalb, weil eine Entscheidung getroffen und Hilfe gerufen wurde – dann erwartet uns eine unwirsche Begrüßung, fast schon ein
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