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Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Autoren: Tarek Siddiqui
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anderes Fahrzeug vergeben worden sei. Kaum jemals ließ er die Gelegenheit zur Kritik aus, wenn die Leitstelle in minder schweren Fällen die Fahranweisung MiNot ohne – Mensch in Not, Fahrt ohne Blaulicht – erteilte: So ein Blödsinn, entweder Not und Blaulicht oder keine Not, dann sollen sie doch irgendeinen Krankenwagen schicken… Wenn man darüber hinwegsah, war die Zusammenarbeit mit ihm durchaus angenehm, und er, sobald der ersehnte Einsatz kam, die Ruhe selbst. Aber manchmal gab es das halt in der Stadt: Manchmal geschah gar nichts, einen ganzen halben Tag lang nicht.

    Die Hauptamtlichen sahen das naturgemäß etwas gelassener in der Gewissheit, dass die Löcher in der Statistik an anderen Tagen aufgefüllt werden würden, und die Ruhe genießend, solange sie währte. Im Nachmittagsverkehr waren Fahrten ohne Blaulicht ohnehin angenehmer als jene mit, wenn sich das Kompressorhorn auf dem Dach des Fahrzeugs mühte, um die Klangwelten in den Innenräumen der Fahrzeuge zu durchdringen und die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer auf sich zu ziehen. Oder, wie Wegmann es einmal ausdrückte, der von sich behauptete, jedes unserer Fahrzeuge am Geräusch seines Alarmsignals zu erkennen: „Weißt du, was das Blöde am Martinshorn ist? Du kannst dich nicht mehr steigern. Wenn dich einer ignoriert, dann ignoriert er dich. Dazu noch hupen, das ist höchstens albern.“
    Ansonsten neigte Wegmann nicht zum Philosophieren; ich fand mich oft mit ihm eingeteilt. Er trug einen Schnauzer, war eher mager und strahlte eine gewisse Unruhe aus, vielleicht eine Schilddrü senüberfunktion. Seine Augen waren dunkel und lagen tief in den Höhlen, obgleich er kaum älter war als ich. Er fuhr gern und war stets guter Dinge, rückte den Unaufmerksamen bis zur Stoßstange auf und parodierte immer wieder aufs Neue grinsend seinen Namen: Weg, Mann!
    Auch wenn es uns, die wir hier fest angestellt waren, weniger darum ging, in mö glichst kurzer Zeit möglichst viele und aufwändige Einsätze zu fahren, die Erwartung spielte eine große Rolle in unserem Denken. Es war nicht die Frage, ob etwas passieren würde – es war nur eine Frage des Wann und Was. Das Wann war schon aus ganz profanen Gründen wichtig: Etwa um den richtigen Zeitpunkt für die Vorbereitung einer Mahlzeit auszuwählen, von der man hoffte, dass man sie ohne Unterbrechung würde zu sich nehmen können. Da waren natürlich die anderen Fahrzeuge im Umkreis zu berücksichtigen, deren Bewegungen wir über Funk verfolgen konnten. Waren drei von vier schon unterwegs, dann erhöhten sich die Chancen für uns, auch außerhalb unseres Kerngebiets einspringen zu müssen. Gegen vier Uhr morgens, das eine der glaubwürdigeren von Metz’ Theorien, gab es fast immer etwas zu tun, weil das die Zeit war, zu der ein normaler Biorhythmus seinen Tiefpunkt erreicht: Und die Stunde, zu der der Kranke, der den Besuch beim Arzt verschleppt hat und keinen Schlaf findet, endlich verzweifelt, und den Morgen nicht mehr erwarten mag.
    Es gab andere Faktoren: Das Wetter, natü rlich, spielt eine Rolle bei der Einschätzung der Einsatzwahrscheinlichkeit, der Wochentag, die Jahreszeit. Aber über all dem regiert die Intuition. Selbst, wenn es nur darum ging, eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben:
    „ Warten wir noch. Letzte Woche um diese Zeit…“
    „ Aber bisher ist alles ruhig!“ Ich hatte Hunger.
    „ Eben. Gleich kommt etwas, ich spüre das.“

    Ich fand das ärgerlich; nicht nur, wenn es meinen eigenen Bedürfnissen zuwiderlief. Diese Intuitionen wurden ohne Zweifel sehr viel häufiger widerlegt als bestätigt, doch sind wir beständig auf der Suche nach Mustern und Ordnungen. Es ist unsere Spezialität: In Gesteinsformationen, in der kondensierenden Feuchtigkeit der Wolken und im narbigen Rund des Mondes erkennen wir Gesichter und Gestalten. Im Nachhinein findet sich oft wieder eine Interpretation, die das eigene Bauchgefühl rechtfertigen hilft -
    „ Na ja, war nichts dabei für uns. Aber die von der Einserwache sind fünf Minuten später hinausgefahren. Hätte gut unsere Fahrt sein können; die Adresse war fast schon in unserem Einsatzgebiet.“

    So etwa. Herumraterei, größtenteils, die plötzlich sehr ernst genommen wurde, wenn eine der Vorhersagen zufällig tatsächlich eintraf. Des Aberglaubens geringes spezifisches Gewicht, seine Oberflächlichkeit, die keiner tieferen Betrachtung standhält, ist auch seine Stärke: Wie ein zäher Ölfilm auf dem Meer breitet er sich aus
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