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Chronik eines angekuendigten Todes

Chronik eines angekuendigten Todes

Titel: Chronik eines angekuendigten Todes
Autoren: Gabriel García Márquez
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Tamarinden zu urinieren, sich Tropfen für Tropfen abquälte. »Mein Bruder hat nie erfahren, wie das ist«, sagte Pedro Vicario bei unserem einzigen Treffen. »Es war, als urinierte ich gemahlenes Glas.« Als Pablo Vicario mit den Messern zurückkehrte, fand er ihn noch immer an den Baum geklammert. »Er schwitzte Eisvor Schmerzen«, sagte er zu mir, »und versuchte mir klarzumachen, ich solle allein gehen, weil er nicht in der Verfassung sei, irgendjemanden zu töten.« Pedro Vicario setzte sich auf einen der Schreinertische, die für das Hochzeitsmahl unter den Bäumen aufgestellt worden waren, und ließ die Hosen bis zu den Knien herunter. »Er brauchte eine halbe Stunde zum Wechseln der Mullbinde, mit der er seinen Pint umwickelt hatte«, sagte Pablo Vicario zu mir. In Wirklichkeit brauchte er nicht mehr als zehn Minuten, doch das Ganze wirkte auf Pablo Vicario so umständlich und rätselhaft, dass er es als neue List des Bruders deutete, um die Zeit bis zum Tagesanbruch hinzubringen. Und so schob er ihm das Messer in die Hand und zerrte ihn fast gewaltsam mit, um die verlorene Ehre der Schwester zu retten.
    »Da gibt’s keinen Ausweg«, sagte er zu ihm, »es ist, als hätten wir es schon hinter uns.«
    Sie trugen die Messer offen in der Hand, als sie durch das Tor des Schweinestalls ins Freie traten, verfolgt vom lauten Gebell der Hunde in den Innenhöfen. Es begann hell zu werden. »Es regnete nicht«, erinnerte sich Pablo Vicario. »Im Gegenteil«, erinnerte sich Pedro, »der Wind kam vom Meer, und noch konnte man die Sterne einzeln zählen.« Inzwischen war die Nachricht schon so weit verbreitet, dass Hortensia Baute die Tür öffnete, als die beiden gerade an ihrem Haus vorübergingen, und die Erste war, die um Santiago Nasar weinte. »Ich dachte, sie hätten ihn schon getötet«, sagte sie zu mir, »weil ich die Messer im Licht der Straßenlaterne sah und es mir vorkam, als ränne Blut an ihnen herunter.« Eines der wenigen Häuser,die in dieser abgelegenen Straße offen standen, war das von Prudencia Cotes, Pablo Vicarios Verlobter. Immer, wenn die Zwillinge zu dieser Stunde dort vorüberkamen, vor allem freitags auf dem Weg zum Markt, kehrten sie bei ihr zum ersten Kaffee ein. Sie stießen die Tür zum Innenhof auf, bestürmt von den Hunden, die sie im Dämmerlicht des Morgengrauens erkannten, und begrüßten Prudencia Cotes’ Mutter in der Küche. Der Kaffee war noch nicht fertig.
    »Wir trinken ihn später«, sagte Pablo Vicario. »Jetzt haben wir es eilig.«
    »Ich kann’s mir denken, Kinder«, sagte sie, »die Ehre wartet nicht.«
    Sie warteten dennoch, und diesmal dachte Pedro Vicario, der Bruder trödle absichtlich. Während sie ihren Kaffee tranken, kam die blühende Prudencia Cotes mit einem Bündel alter Zeitungen in die Küche, um das Herdfeuer anzufachen. »Ich wusste, was sie vorhatten«, sagte sie zu mir, »und ich war nicht nur einverstanden, sondern hätte ihn nie geheiratet, wenn er nicht seine Mannespflicht erfüllt hätte.« Bevor sie die Küche verließen, nahm Pablo Vicario ihr zwei Bogen Zeitungspapier weg, um die Messer einzuwickeln, und gab einen seinem Bruder. Prudencia Cotes wartete in der Küche, bis sie die beiden durch die Hoftür ins Freie treten sah, und wartete noch drei Jahre ohne einen Augenblick der Mutlosigkeit, bis Pablo Vicario aus dem Gefängnis kam und fürs ganze Leben ihr Mann wurde.
    »Gebt gut auf euch acht«, sagte sie zu ihnen.
    Somit ging Clotilde Armenta nicht fehl, als sie die Zwillinge nicht mehr so entschlossen wie vorherfand, und sie servierte ihnen eine Flasche Kräuterschnaps, in der Hoffnung, ihnen den Rest zu geben. Zu mir sagte sie dann: »Das war der Tag, an dem mir klar wurde, wie allein wir Frauen in der Welt sind!« Pedro Vicario erbat sich von ihr das Rasierzeug ihres Mannes, und sie brachte ihm den Pinsel, die Seife, den Wandspiegel und den Apparat mit der neuen Klinge, doch er rasierte sich mit dem Schlachtermesser. Clotilde Armenta hielt das für den Gipfel des Männlichkeitswahns. »Er sah aus wie ein Filmrowdy«, sagte sie zu mir. Mir erklärte er jedoch später, und das stimmte auch, in der Kaserne habe er gelernt, sich mit dem Rasiermesser zu rasieren, und seitdem habe er sich nie mehr auf andere Weise rasieren können. Sein Bruder dagegen rasierte sich auf bescheidenere Weise mit dem von Don Rogelio de la Flor entliehenen Apparat. Schließlich tranken sie die Flasche schweigend und sehr langsam aus und betrachteten mit dem blöden
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