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Chronik eines angekuendigten Todes

Chronik eines angekuendigten Todes

Titel: Chronik eines angekuendigten Todes
Autoren: Gabriel García Márquez
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hatten diese das überall verbreitet. Es schien Clotilde Armenta unvorstellbar, dass man davon im Haus gegenüber nichts wusste. Sie dachte, Santiago Nasar sei nicht daheim, denn sie hatte das Schlafzimmerlicht nicht angehen sehen, und jeden, der ihr in den Weg kam, bat sie, man möge ihn warnen, wo immer man ihm begegne. Sie ließ es sogar Pater Amador durch die Novizin vom Dienst ausrichten, die für die Nonnen die Milch holen kam. Nach vier Uhr, als sie Licht in Plácida Lineros Küche sah, schickte sie ihre letzte dringende Botschaft durch die Bettlerin, die jeden Tag bei Victoria Guzmán um etwas Milch als milde Gabe bat. Als die Sirene des Bischofsschiffs heulte, war fast alle Welt zum Empfang auf den Beinen, und nur wenige von uns wussten nicht, dass die Zwillinge Vicario auf Santiago Nasar warteten, um ihn zu töten; außerdem war der Grund in allen Einzelheiten bekannt.
    Clotilde Armenta hatte ihre Milch noch nicht ganz verkauft, als die Brüder Vicario mit zwei anderen in Zeitungspapier gewickelten Messern zurückkehrten. Eines war zum Zerlegen, mit einer rostigen harten Klinge, zwölf Zoll lang und drei breit; Pedro Vicario hatte es aus dem Metall eines Sägeblatts hergestellt, als infolge des Krieges keine deutschen Messer mehr ins Land kamen. Das andere war kürzer, aber breit und krumm. Der Untersuchungsrichter zeichnete es ins Protokoll, vielleicht weil er es nicht beschreiben konnte, und wagte lediglich den Hinweis, es ähnele einem Krummsäbel in Miniatur. Mit diesen Messernwurde das Verbrechen begangen, und beide waren primitiv und stark abgenützt.
    Faustino Santos konnte nicht begreifen, was geschehen war. »Wieder kamen sie, um die Messer zu schleifen«, sagte er zu mir, »und wieder schrien sie, dass jeder es hören konnte, sie würden Santiago Nasar das Gedärm herausreißen, also glaubte ich, sie wollten mich zum Besten halten, ich hatte nämlich nicht auf die Messer geachtet und dachte, es seien dieselben.« Clotilde Armenta bemerkte diesmal jedoch gleich, als die Zwillinge eintraten, dass sie nicht mehr so entschlossen waren wie zuvor.
    In der Tat hatten sie den ersten Dissens hinter sich. Sie unterschieden sich nicht nur stärker in ihrem Wesen, als von außen zu erkennen war, sondern reagierten auch in schwierigen Lagen völlig anders. Das hatten ihre Freunde schon in der Volksschule bemerkt. Pablo Vicario war sechs Minuten älter als sein Bruder und bewies bis ins Jünglingsalter mehr Einbildungskraft und Entschlossenheit. Pedro Vicario schien mir immer gefühlsbetonter und daher autoritärer zu sein. Mit zwanzig Jahren meldeten sie sich gemeinsam zum Militärdienst, und Pablo Vicario wurde freigestellt, um der Familie vorzustehen. Pedro Vicario leistete seinen elfmonatigen Dienst bei Patrouillen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ab. Das durch die Todesangst verschärfte Kasernenleben ließ in ihm die Neigung zum Befehlen reifen sowie die Gewohnheit, für seinen Bruder zu entscheiden. Er kehrte mit einem Sergeantentripper zurück, der den brutalsten Methoden der Militärmedizin ebenso widerstand wie den Arsenspritzen und den Permanganatspülungenvon Doktor Dionisio Iguarán. Erst im Kerker konnte er geheilt werden. Wir, seine Freunde, waren uns darüber einig, dass Pablo Vicario plötzlich die seltsame Abhängigkeit eines jüngeren Bruder entwickelte, als Pedro Vicario mit einer Kasernenseele zurückkehrte und der neuen Angewohnheit, das Hemd hochzuziehen, um jedem, der sie sehen wollte, die Narbe einer mit mehreren Stichen genähten Schusswunde am linken Rippenbogen vorzuführen. Pablo empfand gar eine Art Ehrfurcht vor dem kapitalen Tripper, den sein Bruder wie einen Kriegsorden zur Schau stellte.
    Pedro Vicario traf nach eigener Aussage die Entscheidung, Santiago Nasar zu töten, und anfangs tat sein Bruder nichts weiter, als ihm zu folgen. Doch als der Bürgermeister sie entwaffnete, war es ebenfalls Pedro, der seine Verpflichtung somit erfüllt glaubte, worauf Pablo Vicario dann das Kommando übernahm. Keiner von beiden erwähnte diesen Dissens, als sie getrennt vor dem Untersuchungsrichter aussagten. Aber Pablo Vicario bestätigte mir mehrmals, es sei nicht leicht gewesen, den Bruder davon zu überzeugen, dass die Entscheidung endgültig war. Vielleicht war es in Wirklichkeit auch nur ein kurzer Anfall von Panik, doch tatsächlich ging Pablo Vicario allein in den Schweinestall, um die beiden anderen Messer zu holen, während der Bruder beim Versuch, unter den
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